1,490
Views
0
CrossRef citations to date
0
Altmetric
Research Article

Zuwanderung in Städte: Chancen und Grenzen der planerischen Steuerung

Abstract

In-migration is a key factor in the growth of cities and an indicator of their attractiveness in the competition between locations. This article investigates the central question of which approaches for the proactive recruitment of in-migrants arise in urban planning and which opportunities and obstacles exist for local governance. On the basis of planning-related theories, a heuristic model for the analysis of local strategies is developed that differentiates in-migration on the housing, labour and education markets. In the empirical part, selected results from qualitative case studies in medium-sized cities are presented. The results show that, in the context of shrinking cities, there is a need for in-migration due to vacant apartments and a shortage of skilled workers, while in the growth context, the problems of a tight housing market as a result of migration move to the fore of city policies. Strategies to attract in-migration are therefore context-dependent and represent a complex cross-sectional task that requires the planning administration to interact with politicians, business and citizens. While growth coalitions are being formed in some cities, in other cases there are barriers that block the development of local in-migration strategies.

English title: In-migration to Cities: Opportunities and limits of Urban Planning

1. Problemstellung und Leitfragen

Wanderungsbewegungen sind ein dynamischer Faktor in der Stadtentwicklung. Als sogenannte «Abstimmungsprozesse mit den Füssen» sind sie ein Indikator für die Attraktivität von Städten im Standortwettbewerb. Der Saldo von Zuund Abwanderungen ist oft entscheidend dafür, ob die Stadtbevölkerung wächst oder schrumpft. Trotz der in vielen Städten verfolgten Wachstumspolitiken erscheint Zuwanderung jedoch als eine schwer zu steuernde Grösse für die Stadtplanung. Oft erweisen sich Bevölkerungsprognosen als unzutreffend, wenn sie einen bestehenden Wanderungstrend in die Zukunft fortschreiben und keine Trendwenden in Betracht ziehen. So wurden viele Städte in Deutschland von den Zuwanderungsdynamiken seit 2010 und der Fluchtmigration seit 2015 überrascht (BBSR 2018). Allen voran erlebte die Metropole Berlin ein vom Umfang her unerwartetes Bevölkerungswachstum, das sich zu einem Grossteil aus internationaler Migration aus dem Ausland speist. Auch die Trendwende in Leipzig − von einer schrumpfenden zu einer wachsenden Grossstadt − hat die Stadtplanung überrascht. Leipzig musste vom Rückbau von Wohnungen, Schulen und Kitas auf Neubau umschwenken. Ebenso erlebten viele kleinere Universitätsstädte eine neue Phase des Bevölkerungswachstums, die als sogenannte «Schwarmstädte» (Simons, Weiden Citation2016) viele Studierende anziehen und weitere Zuzüge generieren konnten. Diese Zuwanderungsprozesse in Städte werden in vielen Studien unter dem Schlagwort der Reurbanisierung (Brake, Herfert 2012; Jessen, Siedentop Citation2018) beschrieben. In der Forschung zur Reurbanisierung liegen jedoch bisher kaum Studien vor, die den Einfluss der lokalen Planungspolitiken auf Zuwanderungsprozesse untersuchen (Boeth Citation2020). Die Leitfragen des folgenden Beitrags lauten deshalb: Welche Strategien zur Anziehung von Zuwanderern entwickelt die Stadtplanung in Deutschland? Welche Chancen und Hemmnisse der planerischen Steuerbarkeit gibt es dabei?

2. Konzeptioneller Rahmen: Planungsbezogene Steuerungstheorien der Zuwanderung

Der folgende Beitrag geht davon aus, dass die Zuwanderung in Städte als sogenannte «Abstimmungsprozesse mit den Füssen» in wirtschaftsliberalen Ländern grösstenteils auf den Arbeits-, Bildungsund Wohnungsmärkten erfolgen. Demnach wird angenommen, dass die lokalen Angebote von Jobs, Studienbzw. Ausbildungsplätzen und Wohnungen wichtige Magnete für Zuwanderung sind. Die Attraktivität von Städten im Wettbewerb mit anderen Kommunen wird jedoch auch durch weiche Standortfaktoren wie Lebensqualität (Buch et al. Citation2014) bestimmt. Die Forschung zur internationalen Migration zeigt ausserdem, dass viele Zuzugsentscheidungen nicht auf Pushund Pull-Faktoren beruhen, sondern auf sozialen Faktoren wie z. B. migrantischen Netzwerken (Gans, Glorius Citation2014).

Theorien zur lokalen Steuerung der Zuwanderung durch Städte auf den Wohnungs-, Arbeitsund Bildungsmärkten liegen bisher kaum vor, da sich die vorhandenen Steuerungstheorien überwiegend auf die Ebene der Nationalstaaten beziehen. (Supra-)nationalstaatliche Migrationspolitiken können internationale Migrationsströme durch Einwanderungsgesetze, Visa-Praktiken und Staatsbürgerschaftsrechte massgeblich beeinflussen (vgl. Heinelt Citation1994; Hampshire Citation2013; Geddes, Scholten Citation2016). In der Forschung zu Migrationspolitiken wird ein local turn proklamiert, weil viele Städte von den restriktiven Zuwanderungspolitiken der Nationalstaaten abweichen und eine Willkommenskultur gegenüber Geflüchteten entwickeln (Scholten, Penninx Citation2016; Zapata-Barrero et al. Citation2017). Entsprechend beschreiben viele Studien die Herausbildung von lokalen Integrationsund Flüchtlingspolitiken in Deutschland (Gesemann, Roth Citation2018; Schamann, Kühn Citation2016). Die in den letzten Jahren viel diskutierte Zuwanderung von Geflüchteten und die Herausbildung einer lokalen Integrationspolitik wird in diesem Beitrag jedoch nicht berücksichtigt, da es sich bei der Fluchtmigration nicht um eine Form der Marktsteuerung, sondern um staatliche Zuweisungen handelt. Der folgende Beitrag versucht hingegen eine Forschungslücke zu schliessen, indem er sich auf die proaktive Anwerbung von Zuwanderung auf den Wohnungs-, Arbeitsund Bildungsmärkten bezieht. Der Beitrag folgt damit der Unterscheidung in der Stadtforschung zwischen einem «Wachstumsregime» und einem «Integrationsregime» (Häussermann Citation2006; Gestring Citation2014) sowie in der politikwissenschaftlichen Migrationsforschung zwischen immigrant policies und immigration policies (Geddes, Scholten Citation2016).

Als wesentliche Treiber für Zuwanderungsstrategien von Kommunen werden in der For-schung drei Faktoren genannt (Kühn Citation2018).

  1. Durch den demografischen Wandel entstehen aufgrund von Abwanderung, Rückgang und Alterung der Bevölkerung in vielen Städten Zuwanderungsbedarfe, der Wohnungsmarkt ist durch Überangebote und Leerstände gekennzeichnet (Gesemann, Roth Citation2018).

  2. Im Hinblick auf die Zuwanderung auf den Arbeitsmärkten ist der Fachkräftemangel von Unternehmen ein wichtiger Treiber. Die Sicherung und Gewinnung von Fachkräften hat sich in vielen Städten und Landkreisen im letzten Jahrzehnt zu einem neuen Handlungsfeld entwickelt (BBSR 2014).Footnote1

  3. Im «Wettbewerb um die besten Köpfe» sind Hochqualifizierte eine von vielen Städten besonders erwünschte Zielgruppe (Imani, Otto, Wiegandt 2015). Der akademische Arbeitsmarkt stellt dabei ein besonderes Segment dar, da viele Akademiker hoch mobil, oft auf internationale Arbeitsmärkte orientiert sind und oft zu den Besserverdienern mit einer hohen Steuerund Kaufkraft gehören (Plöger, Dittrich-Wesbuer Citation2018).

In vielen Studien werden Akademiker als «kreative Klasse» oder «Talente» (Kuptsch, Fong 2006) bezeichnet. Auch Studierende sind in Hochschulstädten eine sehr erwünschte Zuzugsgruppe, obwohl sie aufgrund ihres geringen Einkommens statistisch in der Regel zur Armutsbevölkerung zählen. Studierende gelten jedoch als zukünftige Fachkräfte und Trendsetter, die in «Schwarmstädten» weitere Zuzüge nach sich ziehen. Vielen Universitätsstädten ist es im letzten Jahrzehnt gelungen, eine grosse Zahl von jungen Studierenden anzuziehen und damit demografisch zu wachsen. Die meisten Hochschulstädte haben aber − aufgrund der begrenzten Job-Angebote für Akademiker − strukturelle Probleme, die Absolventen nach Abschluss zu halten. In den Altersgruppen der Berufseinsteiger und Familien weisen deshalb Universitätsstädte meist negative Wanderungssalden auf.

Für ein Steuerungsverständnis, das sich auf die Stadtplanung als Teil des politisch-administrativen Systems bezieht, sind Planungstheorien erforderlich, die Planung als politischen Prozess verstehen. Dabei erscheint es sinnvoll, zwischen drei Dimensionen der Politik zu unterscheiden (vgl. Wiechmann 2018): Der Kontext: Warum wird geplant (polity)? Die Inhalte: Was wird geplant (policy)? Die Prozesse: Wie wird geplant (politics)? In diesem Verständnis werden Planung und Politik in Städten nicht als getrennte Handlungsfelder des plan-making und decision-making konzipiert, sondern als eng verflochtene Planungspolitiken. Das planerische Steuerungsverständnis hat sich dabei längst von einem einseitigen Regieren durch das Government im rationalistischen Planungsmodell zu einer komplexen Akteurs-Netzwerk-Steuerung in der kommunikativen Planungstheorie gewandelt. «Steuerung wird heute zudem als interaktiver Prozess der Governance verstanden, in dem die Stakeholder aktiv mitwirken» (Fürst Citation2018: 1715). Von den Planerinnen und Planern wird erwartet, «dass sie solche Prozesse konstruktiv steuern» (ebd.). Der Governance-Ansatz stellt die kollektive Handlungsfähigkeit in Städten in den Mittelpunkt. Bezogen auf die Steuerung der Zuwanderung durch Stadtplanung rückt damit der Einfluss von Akteuren aus Stadtpolitik, Wirtschaft und Bürgerschaft auf Strategien und Konzepte der planenden Verwaltung in den Mittelpunkt der Analysen.

Auf der Grundlage dieser theoretisch-konzeptionellen Kategorien und Prämissen lässt sich ein heuristisches Modell konzipieren (), das zur vergleichenden Analyse der empirischen Fallstudien dienen soll. Im Modell werden drei Planungsdimensionen unterschieden. Unter dem «Kontext der Planung» werden hier nicht, wie in der Polity-Forschung üblich, die formellen Institutionen wie Verfassungen, Demokratieformen und Gemeindeordnungen verstanden, sondern die spezifischen Probleme und Treiber, welche einen Handlungsdruck auslösen und Planungsansätze in Städten veranlassen. Die «Inhalte der Planung» beziehen sich auf Aussagen in lokalen Stadtentwicklungskonzepten, Strategien und Leitbildern, die das Ziel haben, Zuwanderung zu steuern. Dabei werden neben Konzepten der Stadtplanung auch solche der Wirtschaftsförderung berücksichtigt, um Ansätze der arbeitsmarktbezogenen Zuwanderung zu erfassen. Die «Prozesse der Planung» bilden die handelnden Akteure und deren Koalitionen ab. Die Urban Governance-Forschung unterscheidet verschiedene Typen wie z. B. pro-growth, korporatistisch, pluralistisch oder populistisch (Pierre Citation2011). Weil die Steigerung der Zuwanderung häufig das Zielvon wachstumsorientierten Reurbanisierungspolitiken ist, sind für eine Analyse von lokalen Zuwanderungsstrategien die verschiedenen Formen von «Wachstums-Koalitionen» besonders relevant. Da die Bildung von Governanceformen in der Praxis stark an Voraussetzungen gekoppelt ist und scheitern kann (Jessop Citation2000), werden auch Differenzen und Konflikte in der Stadtpolitik beschrieben, welche ein Zusammenwirken blockieren. In vertikaler Richtung unterscheidet das Modell die drei Steuerungsfelder Wohnungs-, Arbeitsund Bildungsmarkt, um die wichtigsten Zuwanderungsarten abzubilden. Dabei ist zu beachten, dass es sich beim Wohnen und Arbeiten um stark segmentierte Teilmärkte (z. B. Mietund Eigentumsmärkte, Arbeitsmärkte für Hochqualifizierte und Niedriglohnjobs) handelt. Die Zuordnung von Fallstudien zu einzelnen Steuerungsfeldern stellt jeweilige Schwerpunktsetzungen in Städten dar, besagt aber nicht, dass diese in den anderen Feldern nicht auch aktiv sind.

Tab. 1: Planungsdimensionen und Steuerungsfelder der Städte. (Quelle: eigene Darstellung)

3. Forschungskontext und -methodik

Die Erkenntnisse, die diesem Beitrag zugrunde liegen, sind im Rahmen des DFG-Projektes «Zuwanderungsstrategien – Planungspolitiken der Regenerierung von Städten» (2018−2021) entstanden. Ziel des Projektes war es empirisch zu untersuchen, welche Strategien Städte zur Anziehung von Zuwandernden entwickeln, welche lokalen Koalitionen zwischen öffentlichen und privaten Akteuren sich bilden und welche Hemmnisse und Konflikte dabei in der Planungspolitik auftreten. Im Projekt wurden zwei kleine Grossstädte und vier Mittelstädte in Deutschland untersucht: Göttingen und Jena, Bamberg und Brandenburg an der Havel sowie Ravensburg und Wismar.

Abb. 1: Die Lage der Fallstudienstädte. (Quelle: Autor)

Abb. 1: Die Lage der Fallstudienstädte. (Quelle: Autor)

Diese Fallauswahl wird durch mehrere Kriterien begründet. Erstens ermöglicht sie einen Vergleich zwischen westund ostdeutschen Städtepaaren ähnlicher Grösse, die aufgrund der Teilung Deutschlands bis heute sehr unterschiedliche Anteile der Bevölkerung mit Migrationshintergrund bzw. Ausländern aufweisen. Die Bevölkerung in ostdeutschen Kleinund Mittelstädten (Brandenburg an der Havel, Wismar) ist bis heute deutlich geringer international geprägt als in westdeutschen Kleinund Mittelstädten mit einer längeren Gastarbeitergeschichte (Ravensburg, Bamberg). Als Folge davon ist auch die Zuwanderung aus dem Ausland in die ostdeutschen Städte bis heute geringer. Die Fallauswahl ermöglicht zweitens eine Berücksichtigung unterschiedlicher Strukturkontexte: Städte im demografischen Wachstumskontext, die durch eine hohe Nachfrage und Engpässe auf den Wohnungsmärkten gekennzeichnet sind (Bamberg, Jena, Göttingen) und Städte im Schrumpfungskontext, die durch eine geringe Nachfrage sowie Überangebote auf den Wohnungsmärkten gekennzeichnet sind (Brandenburg an der Havel, Wismar). Durch diese kontrastierenden Kontexte können unterschiedliche Zuwanderungsbedarfe in der Stadtpolitik erwartet werden. Als drittes Kriterium wurden Fälle mit einem unterschiedlichen Schwerpunkt auf dem Wohnungs-, Arbeitsund Bildungsmarkt und unterschiedlichen Zielgruppen ausgewählt. Das Sample umfasst somit kleine Grossund Universitätsstädte mit einer starken Zuwanderung von Studierenden und Hochqualifizierten (Göttingen und Jena), grössere Mittelstädte mit Zuwanderungen auf dem Wohnungsmarkt (Bamberg und Brandenburg an der Havel) sowie kleinere Mittelstädte mit der Zuwanderung von Fachkräften auf dem Arbeitsmarkt (Ravensburg und Wismar). Im Hinblick auf die Zuwanderung in Städte lassen sich weiterhin verschiedene Zuzugsmotive nach Altersgruppen bestimmen (Wiegandt, Milbert Citation2019). In der Forschung werden Bildungswanderer (18-bis unter 25-Jährige), Berufseinstiegswanderer (25-bis unter 30-Jährige), Familienwanderer (0−18 und 30-bis unter 50-Jährige), Empty-Nest-Wanderer (50-bis unter 65-Jährige) und Alterswanderer (über 65-Jährige) unterschieden. Dabei machen die 18-bis 25 Jährigen aufgrund ihrer hohen Mobilität einen Grossteil aller Wanderungen aus. Die folgenden Wanderungsdaten für den Zeitraum 2010 bis 2017 (s. ) zeigen eine sehr hohe Bildungszuwanderung in den Universitätsstädten Göttingen und Jena bei gleichzeitig hohen Wanderungsverlusten von Berufseinsteigern und Familien. Die Wachstumsdynamik der Bevölkerung ist in Bamberg am höchsten, Wanderungsgewinne entstehen hier vor allem durch Studierende, doch Bamberg zieht auch Berufseinsteiger und Familien an. Dagegen ist die Wachstumsdynamik in Brandenburg an der Havel am schwächsten, die Bildungswanderung hat eine relativ geringere Bedeutung und nur wenige Berufseinsteiger finden Jobs.

Tab. 2: Ausgewählte Wanderungsdaten der Fallstädte im Zeitraum 2010–2017.

(Absolute Zahlen, Quelle: Sonderauswertung BBSR 2020)

In empirischen Fallstudien zu den sechs Städten wurden qualitative Politikund Planungsanalysen (Blatter et al. Citation2007) durchgeführt. Methodisch basieren die Fallstudien neben Datenund Dokumentenanalysen auf der Durchführung und Auswertung von leitfadengestützten ExpertInnen-Interviews. Als Dokumente wurden kommunale Stadtentwicklungs-, Wirtschaftsförderungsund Integrationskonzepte im Zeitraum 2010 bis 2020 sowie Webseiten und Presseartikel ausgewertet. Lokale Expertinnen und Experten wurden aus den Bereichen Stadtpolitik, Stadtverwaltung, Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft interviewt. Deren Auswahl erfolgte zunächst über die Analyse kommunaler Dokumente und Webseiten und wurde aufgrund von Empfehlungen nach dem Schneeballprinzip in einer zweiten Interviewrunde erweitert. Die Expertinnen und Experten sollten eine Varianz von Akteuren aus der lokalen Governance abbilden, wobei ein Schwerpunkt auf Stadtpolitik und Stadtverwaltung gelegt wurde. Eine wesentliche Quelle des vorliegenden Aufsatzes sind transkribierte Experteninterviews, auf die bei Aussagen oder Original-Zitaten mit jeweiligen Codes verwiesen wird.Footnote2 In den Städten wurden insgesamt 80 Interviews durchgeführt.Footnote3 Die subjektiven Aussagen der Interviewpartner wurden durch eine vergleichende Auswertung der Transkripte auf ihre Plausibilität und intersubjektive Richtigkeit geprüft und nur zitiert, wenn die Deutungsmuster von anderen Interviewpartnern bestätigt wurden (Räuchle Citation2018). Eine Rekonstruktion der Politikund Planungsprozesse in den Fallstudienreports erfolgte, indem Daten, Dokumente und Interviews miteinander in Beziehung gesetzt wurden. Eine solche Triangulation ist sinnvoll, wenn die kombinierten methodischen Zugänge unterschiedliche Perspektiven eröffnen und sich der Erkenntnisgewinn gegenüber der Einzelmethode dadurch erweitert (Flick Citation2011). Die Ergebnisse der Fallstudien wurden auf einem Expertenworkshop im Hinblick auf ihre Sachgerechtigkeit und ihre Übertragbarkeit bzw. Verallgemeinerbarkeit mit Vertretern aus Planungspraxis und Forschung diskutiert.Footnote4

4. Empirische Ergebnisse aus den Fallstudien

Im Folgenden werden ausgewählte Ergebnisseder empirischen Fallstudien dargestellt. Für eine tiefere Analyse der Zuwanderungsstrategien der einzelnen Städte sei auf die Fallstudienreports verwiesen.Footnote5

4.1 Steuerung der Zuwanderung auf Wohnungsmärkten

Im folgenden Kapitel werden am Beispiel der Mittelstädte Brandenburg an der Havel und Bamberg Zuwanderungsstrategien, die einen Schwerpunkt auf den Wohnungsmarkt legen, beschrieben. Leitend sind dabei die Analyse von Kontexten, Inhalten und Prozessen der Planung.

4.1.1 Brandenburg an der Havel: Zuzugsstrategie

  • Kontext der Planung: Demografische Schrumpfung als Treiber

Ein Beispiel für den demografischen Wandel als Treiber ist die Stadt Brandenburg an der Havel, die über tausendjährige «Wiege der Mark». Die Domstadt besteht aus drei historischen Stadtkernen, der gründerzeitlichen Stadterweiterung im angrenzenden Ring, den grossen Stadterweiterungen der 1920/30er Jahre («Stadt des Siedlungsbaus») sowie zwei Grosswohnsiedlungen, die in der DDR-Zeit für die Arbeiter des Stahlwerks am Stadtrand errichtet wurden. Die Einwohnerzahl der Stadt ist aufgrund des Niedergangs der Stahlindustrie nach der Wiedervereinigung von knapp 100 000 auf heute knapp 72 000 gesunken. Erst seit 2013/2014 zeichnet sich eine Stabilisierung bzw. ein leichtes Wachstum der Bevölkerungszahlen ab. Die Stadt zeigt dabei eine gespaltene Entwicklung mit Zuzügen in die historischen Altstadtkerne und Wegzügen aus den Grosswohnsiedlungen am Stadtrand (Boeth Citation2021).

  • Inhalte der Planung: die Forderung nach einer Zuzugsstrategie

In Brandenburg an der Havel hat die Stadtpolitik das Ziel, neue Zuwanderer anzuziehen, um die Bevölkerungsentwicklung zu stabilisieren. Im Integrierten Stadtentwicklungskonzept (INSEK) von 2018 heisst es dazu: «Entsprechend ist es Ziel des INSEKs, mit neuen urbanen Wohnangeboten mehr Zuwanderung zu generieren und somit eine eher konsolidierte Bevölkerungsentwicklung anzustreben» (Stadt Brandenburg an der Havel Citation2018: 37). Um dieses Ziel zu erreichen, wurde aus der Stadtpolitik mehrfach die Forderung nach einer Zuzugsstrategie an die Verwaltung erhoben (BB4, BB5, BB1, BB12). Diese Forderung wird im INSEK aufgegriffen und wie folgt begründet: «Um sich als Standortalternative zu Berlin oder Potsdam zu profilieren, ist eine integrierte Strategie erforderlich. Diese muss einerseits strategische Leitlinien für die gezielt auf Zuzug ausgerichtete Weiterentwicklung der zentralen Standortfaktoren (Wohnungsangebot, Verkehrsanbindung, Arbeitsmarkt, soziale Infrastruktur, Alleinstellungsmerkmale für besondere Lebensqualität) enthalten. Andererseits muss sie Zielgruppen und Nachfragepotenziale definieren, Kommunikationsund Vermarktungsstrategien umreißen» (Stadt Brandenburg an der Havel Citation2018: 101). Das INSEK zielt auf Zuzüge aus dem metropolitanen Raum Berlin/Potsdam, um an den Wachstumsprozessen der Hauptstadtregion zu partizipieren. Eine Zuzugsstrategie soll Zielgruppen definieren und eine gezieltere Vermarktung der lokalen Wohnungsangebote in der Hauptstadtregion Berlin-Brandenburg erreichen. Eine solche Zuzugsstrategie liegt aber bis zum Abschluss der Fallstudie nicht vor (BB8; BB13). Auf die Hemmnisse dafür wird im nächsten Abschnitt eingegangen.

  • Prozesse der Planung: Differenzen zwischen Politik und Verwaltung

Im langjährigen Abwanderungskontext von Brandenburg an der Havel hat sich seit 2004 eine lokale Koalition zwischen Stadtverwaltung und Wohnungswirtschaft durch die «Arbeitsgemeinschaft Stadtumbau» institutionalisiert. In dieser Arbeitsgemeinschaft sind neben dem Stadtentwicklungsamt sieben Wohnungsunternehmen (ein kommunales, fünf genossenschaftliche und ein privatwirtschaftliches) vertreten, die als Steuerungsgruppe fungieren. Damit hat sich im Stadtumbau-Prozess eine handlungsfähige lokale «Schrumpfungs-Koalition» etabliert, deren Hauptziel lange Zeit der Rückbau von leerstehenden Wohnungen mit dem Ziel der Konsolidierung der Unternehmen war. Mit der allmählichen Stabilisierung der Bevölkerungsentwicklung, der wirtschaftlichen Regenerierung und den leichten Zuwanderungsgewinnen erfolgte in Brandenburg an der Havel ein Paradigmenwechsel in der Stadtpolitik. Ab 2016 entstanden erste parteipolitische Papiere mit programmatischen Titeln wie «Aufbruch zur wachsenden Stadt». Doch der Wachstumseuphorie in Teilen der Stadtpolitik steht eine Wachstumsskepsis in der planenden Verwaltung gegenüber. Die planende Verwaltung agiert vorsichtiger gegenüber zu grossen Wachstumserwartungen angesichts einer negativen natürlichen Bevölkerungsentwicklung, die hohe Wanderungsüberschüsse erfordert, damit die Stadtbevölkerung überhaupt wächst (BB6, BB11). Die zögerliche Rolle der Stadtplanung wird ausserdem mit der Spaltung zwischen wachsenden und schrumpfenden Stadtteilen begründet. Trotz der Zuzüge in die Stadtkerne und den gründerzeitlichen Ring ist gleichzeitig ein weiterer Rückbau in Grosssiedlungen mit hohen Leerständen erforderlich. Neue Wohnungsangebote enthalten deshalb aus der Sicht der Stadtplanung die Gefahr von höheren Leerständen durch innerstädtische Umzüge (BB5). Die Verwaltung bremst nach Aussagen von Stadtpolitikern deshalb die Ausweisung von neuen Wohngebieten (BB7). Das Stadtparlament übt wiederum Druck auf die Verwaltung zur Ausweisung von Wohnbauflächen (BB12) aus. Ein Interviewpartner aus der Politik dazu: «Die Verwaltung versucht schon zu steuern, indem sie nicht alles Mögliche ausweist, aber der Druck durch die Zusammensetzung zumindest jetzt im Stadtparlament ist so, dass die wollen, dass ausgewiesen wird.» (BB11).

Eine handlungsfähige «Wachstums-Koalition» zwischen Politik, Verwaltung und Wohnungswirtschaft, die den Zuzug proaktiv mit einer Strategie steuert, hat sich bisher in Brandenburg an der Havel nicht entwickelt. Diese Governance-Blockade hat nach der Auswertung unserer Experten-Interviews mehrere Gründe. Erstens ist die Stadtplanung aufgrund der Abwanderungsgeschichte und der anhaltenden Leerstandsprobleme in den Grosswohnsiedlungen noch stark mit dem Management der Schrumpfung beschäftigt. Ein Stadtpolitiker: «Wir haben eben über zwanzig Jahre hinweg im Grunde den Rückgang verwaltet und das setzt sich in einer Verwaltung auch fest. Da sehe ich eine große Herausforderung» (BB6). Zweitens bestehen die bereits dargestellten inhaltlichen Differenzen zwischen Politik und Verwaltung über die Wachstumspotenziale der Stadt. Drittens wird die Rolle der Stadtplanung als schwach beschrieben. Von vielen wird eine starke Führungsperson (wie die früheren Stadtbaudirektoren) vermisst, welche die verschiedenen Ressorts koordiniert und zwischen Politik und Verwaltung vermittelt (BB1, BB12, BB13). Viertens wird die regierende Koalition im Rathaus als marktliberal beschrieben, da sie den Wohnungsbau − trotz der grossen Tradition als Stadt des Siedlungsbaus in den 1920er und 1930er Jahren − nicht als öffentliche Aufgabe von kommunalen Wohnungsbaugesellschaften, sondern als Aufgabe von privaten Investoren betrachtet (BB1, BB10). Dahinter steckt auch das implizite politische Ziel, mehr Besserverdienende anzuziehen, da Brandenburg eine der ärmsten Stadtbevölkerungen im Land aufweist, was als Last für die Stadtkasse betrachtet wird (BB12, BB7, BB13). Viertens sind die kommunalen Wohnungsunternehmen mit der Vermarktung der eigenen Bestände ausgelastet und sehen in Neubauten bisher eher eine Konkurrenz (BB9). Eine marktliberale Stadtpolitik, welche die Möglichkeiten des kommunalen Wohnungsbaus bisher nicht nutzt, und zudem eine eher reaktive Verwaltung werden von einem Interviewpartner aus der Bürgerschaft als «Kartell der Untätigen» (BB14) bezeichnet. Zusammenfassend sind Differenzen zwischen Politik und Planung, eine eher reaktiv agierende Stadtverwaltung und eine ressourcenschwache kommunale Wohnungswirtschaft wichtige Hemmnisse für die Entwicklung einer Zuwanderungsstrategie in Brandenburg an der Havel (Boeth Citation2021).

4.1.2 Bamberg: Vom Zuwanderungsbedarf zum Zuzugsdruck

  • Kontext der Planung: Wandel von Schrumpfung zu Wachstum

Ein Beispiel für den Wandel vom Schrumpfungszum Wachstumskontext ist die ebenfalls über eintausend Jahre alte ehemalige Reichsund Bischofsstadt Bamberg. Die Bergstadt, Inselstadt und Gärtnerstadt sind als Stadtteile aufgrund ihrer erhaltenen historischen Strukturen als UNESCO-Weltkulturerbe ausgewiesen («fränkisches Rom»). Die Stadt wies bis 2010 eine weitgehend stabile Einwohnerentwicklung auf, ist seitdem aber um über 7000 auf mehr als 77000 Einwohner gewachsen. Durch die Zuwanderung von Studierenden, aber auch von Familien, Arbeitskräften und Pensionären, ist Bamberg heute ein attraktiver Universitäts-, Wohnund Arbeitsstandort (Boeth Citation2020). Folgt man den Dokumenten, betrachtet die Stadtplanung den kommunalen Wohnungsbau als ein Instrument, um Zuwanderung aktiv zu steuern. Der Stadtentwicklungsplan Wohnen aus dem Jahr 2006 unterlag noch der «Prämisse, dass der Bevölkerungserhalt in Zeiten des demographischen Wandels durch kommunale Wohnungspolitik steuerbar ist» (Stadt Bamberg Citation2006: 3). Dieser Stadtentwicklungsplan Wohnen und das städtebauliche Entwicklungskonzept (Stadt Bamberg Citation2011) gingen vom Szenario eines Bevölkerungsrückgangs aus und hatten das Ziel, möglichst viele Zuzüge durch die kommunale Wohnungspolitik zu generieren bzw. Abwanderungen ins Umland zu verhindern. Seitdem haben sich die Bedingungen auf dem Wohnungsmarkt grundlegend geändert, was sich auch in einem veränderten Umgang der Stadtplanung mit Zuwanderung niederschlägt. 2013 wurde erstmals der Wandel «vom Wohnungsüberhang zum Wohnungsdefizit» (Stadt Bamberg Citation2013: 39) thematisiert. Die steigende Nachfrage nach Wohnungen bei gleichzeitiger Flächenknappheit hat den Druck auf dem lokalen Wohnungsmarkt weiter erhöht. Der Stadtentwicklungsplan Wohnen stellt jetzt eine überhöhte Wohnungsnachfrage fest, die zu einem «deutlichen Zuzugsstress» (Stadt Bamberg Citation2016: 53) sowie «Zuzugsdruck» (ebd.: 52) geführt hat. Weiter heisst es: «Bamberg befindet sich spätestens seit 2009 im Dilemma aller Schwarmstädte, in denen die Übernachfrage im Verhältnis zu den Erweiterungsmöglichkeiten des Wohnungsbestandes zu groß ist» (ebd.: 54). Der Stadtentwicklungsplan von 2016 empfiehlt deshalb eine Begrenzung des Zuzugs durch eine qualitativ ausgerichtete Wohnungspolitik: «War es in den beiden vorhergehenden Stadtentwicklungsplänen das Ziel, die Bevölkerungsbewegungen zu beobachten und die Stadtentwicklung danach auszurichten, so wird nun der umgekehrte Weg eingeschlagen. Der Wohnungsbau bestimmt die Höhe der Zuzüge» (ebd.: 52). Durch den Wandel vom Schrumpfungszum Wachstumskontext sieht die Stadtplanung in Bamberg Zuwanderung also weniger als Chance, sondern mehr als Problem. Die Höhe der Zuwanderung soll jetzt durch den Wohnungsbau kanalisiert werden.

  • Inhalte der Planung: Konversion als Reurbanisierungsprojekt

Das städtebauliche Entwicklungskonzept von 2011 hat Bamberg noch als Stadt im demografischen Wandel beschrieben. Um den prognostizierten Rückgang und die Alterung der Bevölkerung zu kompensieren, forderte das Konzept «die Chancen der Reurbanisierung gezielt zu nutzen und durch die Stadt zu organisieren» (Stadt Bamberg Citation2011: 42). Für dieses Ziel wurde u.a. ein spezielles Bamberger Baulandmodell entwickelt, um insbesondere Familien in der Stadt zu halten und anzuziehen. Ein Grossprojekt der Reurbanisierung in Bamberg stellte die Konversion der ehemaligen amerikanischen Kasernen dar. Diese erstrecken sich im Osten der Stadt über ein 450 ha grosses Gelände und sollten nach dem Abzug der US-Army 2012 in kommunale Hand übergehen und danach für Wohnund Gewerbenutzungen umgewandelt werden. Für diese «Jahrhundertaufgabe» wurde 2013 das Amt für strategische Entwicklung und Konversionsmanagement neu gegründet. Ausserdem hat die Stadtplanung ein städtebauliches Entwicklungskonzept auf der Basis einer breiten Bürgerbeteiligung erarbeitet. Darin heisst es, dass Bamberg bisher «nur einen geringeren Zuwachs realisieren [konnte] als in der jüngsten Zeit im Rahmen der Tendenz des ‹Zurück in die Stadt› möglich gewesen wäre» (Stadt Bamberg Citation2014: 8). Durch die Konversion eröffne sich nun die Möglichkeit, dass Bamberg die Bevölkerungszahl auf bis zu 75 000 Einwohner steigern könnte (ebda.). Als Folge der Flüchtlingskrise 2015 stoppte das Bundesinnenministerium jedoch überraschend den Verkauf der Kasernen an die Stadt und richtete stattdessen die Geflüchteten-Aufnahmeeinrichtung Oberfranken (AEO) sowie ein Ausund Fortbildungszentrum der Bundespolizei ein. Dies führte – bis auf kleinere Teilbereiche – zum vorläufigen Scheitern des Konversions-Projektes. Durch die Inanspruchnahme der Flächen durch Bund und Land wurden das städtebauliche Entwicklungskonzept von 2014 sowie der Stadtentwicklungsplan Wohnen von 2013 obsolet (BA5).

  • Prozesse der Planung: Tagespolitik bremste Strategieentwicklung

Das Beispiel der gescheiterten Konversion zeigt die hohe Abhängigkeit kommunaler Akteure von staatlichen Entscheidungen, besonders bei der Steuerung der Fluchtmigration. Aber auch auf der lokalen Ebene hat sich in Bamberg bisher keine handlungsfähige Koalition zwischen öffentlichen und privaten Akteuren gebildet, um eine kommunale Zuwanderungsstrategie zu forcieren. Dies hat mehrere Gründe, die mit dem Wandel lokaler Kontextbedingungen, aber auch mit lokalen Blockaden zwischen den Akteuren erklärt werden können. Im Hinblick auf die Kontextbedingungen erfolgt die Zuwanderung in die Stadt in den Jahren seit 2010 ohne planerische Steuerung über die Nachfrage auf dem Wohnungsmarkt. Laut eines Vertreters der Wohnungswirtschaft ist dieser Zuzug nicht das Ergebnis strategischen Handelns, vielmehr «gibt es in Bamberg keinerlei Strategie» (BA3). Die unerwartet starke Zuwanderung hat zur Verknappung und Verteuerung von Wohnangeboten in der früher mieterfreundlichen Stadt geführt. Deshalb wird Zuwanderung von der Stadtplanung heute als «Druck» und «Stress» beschrieben, so dass die Akteure keinen weiteren Bedarf dafür sehen. Eine Mitarbeiterin der Verwaltung: «Ein aktives Anwerben von neuen Fachkräften, Menschen und Bürgern, das haben wir nicht, weil, das sagen ihnen hier alle, das haben wir nicht nötig» (BA1). Ausserdem limitiert die Flächenknappheit nach dem Scheitern der Konversion ein Wachstum der Stadt. Da Bauflächen in Bamberg knapp sind, hat die Stadtplanung wenige Möglichkeiten, um über neue Wohnungsangebote mehr Zuwanderung anzuziehen (BA1).

Wichtige Hemmnisse für eine lokale Zuwanderungsstrategie liegen jedoch auch in den lokalen Akteurs-Konstellationen. Dabei sind drei Aspekte relevant: Erstens wird der Wohnungsbau bisher weitgehend dem freien Markt und damit den hochpreisigen Angeboten privater Investoren überlassen («Betongold»). Ein Anteil bezahlbarer Wohnungen von 20 Prozent wird durch eine Sozialklausel bei grösseren Bauprojekten gesichert, ist jedoch politisch sehr umstritten. Mehrere Interviewpartner vermissen eine kommunale Wohnungspolitik in der früher als mieterfreundlich geltenden Stadt (BA10, BA9, BA12). Zweitens wird die Stadtpolitik als wenig langfristig und strategisch orientiert beschrieben, sondern mehr an aktueller «Tagespolitik» (BA1), die zudem stark durch die fiskalischen Interessen des Stadtkämmerers bestimmt wird. Drittens wurde zwar ein neues Amt für strategische Entwicklung und Konversionsmanagement gegründet, um Strategien der Stadtentwicklung zu entwickeln. Es steht aber in Konkurrenz zu anderen Ressorts, die sich gegenseitig blockieren (BA7) und seine Aufgaben werden von der Politik bisher auf die Konversion begrenzt (BA4, BA5, BA8, BA12).

4.2 Steuerung der Zuwanderung auf Arbeitsmärkten

Im Folgenden werden Zuwanderungsstrategien auf den Arbeitsmärkten am Beispiel von Jena und Wismar beschrieben.

4.2.1 Jena: Fachkräfteallianzen in der High-Tech-Stadt

  • Kontext der Planung: Fachkräftemangel als Treiber

Da die Entscheidung von Fachkräften für den Zuzug nicht allein auf einem Job-Angebot beruht, sondern auch andere Standortfaktoren wie Lebensqualität, Familienfreundlichkeit und Wohnangebote in Städten eine wichtige Rolle spielen, haben sich vielerorts Netzwerke zwischen Verwaltung, Politik, Zivilgesellschaft und Unternehmen gegründet, die auch als «Fachkräfteallianzen» bezeichnet werden. Ein bekanntes Beispiel dafür ist die «Jenaer Allianz für Fachkräfte» (BBSR 2017: 115). Die thüringische Universitätsstadt Jena hat heute etwa 108 000 Einwohnern und wächst seit einigen Jahren durch Geburtenüberschüsse sowie den Zuzug von Studierenden. Durch die enge Kopplung vieler Forschungseinrichtungen (u. a. FriedrichSchiller-Universität, Ernst-Abbe-Hochschule, Universitätsklinikum, elf ausseruniversitäre Forschungsinstitute) mit der Technologieentwicklung in teilweise global agierenden Unternehmen (u. a. Carl Zeiss, Jenoptik, Intershop) ist Jena heute ein Zentrum für High-TechWachstumsbranchen und hochqualifizierte Arbeitskräfte. Das Stadtentwicklungskonzept Jena.2030+ beschreibt Jena «als ein international bekanntes Hochtechnologiezentrum, [welches] von einer einzigartigen Symbiose zwischen Wissenschaft und Unternehmertum» (Stadt Jena Citation2017: 99) geprägt ist. Darüber hinaus wird Jena als eine «wachsende und zukunftsfähige Stadt» (ebda.: 99) dargestellt, deren «Bevölkerungswachstum in hohem Maße von zukünftigen Zuzugsraten und damit von den Standortqualitäten von Wissenschaft, Wirtschaft und der Stadt abhängig ist» (ebda.: 95). Ein Interviewpartner aus der Stadtverwaltung: «Der limitierende Faktor für unser Wachstum? Wir haben lange Zeit geglaubt, das wären die Flächen, das wären unsere Gewerbeund Wohnraumentwicklung, es zeigt sich aber in letzter Zeit, dass die Fachkräftesituation eigentlich noch das akutere Problem ist» (JE16). Der Fachkräftemangel wird von einigen befragten Akteuren auf den fehlenden Nachwuchs aus der Region, aber auch die nicht konkurrenzfähige Lohnhöhe in Ostdeutschland zurückgeführt (JE2).

  • Inhalte der Planung: Welcome Center und Fachkräfteallianz

Die Fachkräfteallianz Jena wurde 2008 gegründet und setzt sich aus Akteuren von Wirtschaft, Wissenschaft und Bildung unter der Federführung der kommunalen Wirtschaftsförderungsgesellschaft zusammen. Die Allianz versteht sich als zentrale Informationsplattform und Sprachrohr gegenüber Politik und Öffentlichkeit, initiiert aber auch eigene Projekte. Zunächst hat die Allianz das Ziel verfolgt, den Übergang zwischen Schule und Beruf zu verbessern und mehr Ausbildungsplätze zu schaffen. Heute ist das Handlungsfeld der Fachkräfteanwerbung in den Mittelpunkt gerückt (JE4). Die Wirtschaftsförderungsgesellschaft hat einen Welcome-Service gegründet, um lokale Unternehmen dabei zu unterstützen, potentielle neue Fachkräfte vom Standort Jena zu überzeugen und neu hinzugezogenen Fachkräften das Einleben zu erleichtern. Unternehmen können so zum Beispiel Pakete buchen, bei denen die Stadt als lebenswerter Wohnstandort bei Stadtspaziergängen präsentiert wird (JE13). Bei Zuzügen aus dem Ausland unterstützt der Welcome-Service die Unternehmen wie auch die Neubürgerinnen und Neubürger in behördlichen oder administrativen Angelegenheiten wie z. B. Ausländerbehörde, Bürgerservice oder Kitas.

  • Prozesse der Planung: die Wirtschaftsförderung als Schlüsselakteur

Ein Schlüsselakteur für die Fachkräfteanwerbung in Jena stellt die kommunale Wirtschaftsförderungsgesellschaft dar. Diese wurde 2008 als GmbH gegründet, der Aufsichtsrat setzt sich zusammen aus Mitgliedern der Wirtschaft, der Wissenschaft und des Stadtrats. Aufgrund Ihrer Rechtsform, einer von der Stadtverwaltung ausgelagerten Gesellschaft, wird ihr eine hohe politische Eigenständigkeit zugeschrieben. Zudem wird ihre Vermittlerrolle zwischen Stadtverwaltung, Politik und Privatwirtschaft hervorgehoben (JE4). Für die lokale Governance der Zuwanderungspolitik nimmt die Wirtschaftsförderung als Initiator vieler Projekte und Netzwerke zwischen den Unternehmen und der Stadtpolitik eine proaktive Rolle ein (JE4). In einem von der Wirtschaftsförderung erstellten Positionspapier Jena braucht Wachstum (Stadt Jena 2019) bezieht sie aktiv Stellung und bezeichnet die Zuwanderung von Fachkräften, neben der Ausweisung von Wohnund Gewerbeflächen, als essentiell für die zukünftige Stadtentwicklung. Die diesbezügliche Zusammenarbeit zwischen Stadtentwicklung und Wirtschaftsförderung wird von den befragten Akteuren als eng und konstruktiv bewertet (JE4; JE13). Im Hinblick auf die Urban Governance der Fachkräftegewinnung lässt sich in Jena also von einer historisch gewachsenen Wachstums-Koalition sprechen, die sich aus Akteuren der Stadtpolitik, der Verwaltung und der Unternehmen zusammensetzt. Als zentrales Bindeglied zwischen öffentlichen und privaten Akteuren fungiert die eigenständig agierende kommunale Wirtschaftsförderung. Das primäre Ziel der Unternehmen und der Wirtschaftsförderung ist die Anziehung von Fachkräften, welches sich mit den Wachstumszielen der Stadtentwicklungspolitik deckt. Obwohl der Zuzug von Hochqualifizierten die Knappheit und den Preisdruck auf dem angespannten Wohnungsmarkt weiter erhöht und es in Jena bereits wachstumskritische Proteste von Bürgerinnen und Bürgern gegen eine weitere Bebauung im Stadtgebiet gibt (JE13), unterstützt die Stadtentwicklungspolitik bisher die Wachstumsziele der Wirtschaft, nicht zuletzt um durch höhere Steuereinnahmen die kommunalen Finanzen für die Zukunft zu sichern. Eine Stadtpolitikerin: «Wachstum ist alternativlos in Jena» (JE16).

4.2.2 Wismar: Fachkräftegewinnung durch private Unternehmen

  • Kontext der Planung: Krise und Boom der Werft

Die Hansestadt Wismar wird durch die als UNESCO-Weltkulturerbe ausgewiesene Altstadt, den Hafen zur Ostsee, die Werftindustrie und weitere maritime Wirtschaftsunternehmen geprägt. Nach der Wende erlebte die Hafenstadt durch den Niedergang der strukturprägenden Nordic-Werft eine tiefe Transformationskrise mit hoher Abwanderung und Arbeitslosigkeit. 2009 folgte die Insolvenz der Werft. Die Einwohnerzahl sank von circa 58 000 auf 42 000. In den Jahren 2014 bis 2016 traten erstmals leichte Einwohnergewinne ein. Nach der Hafenerweiterung und der Übernahme der MV Werften 2016 durch einen malaysischen Investor kam es zu einem wirtschaftlichen Aufschwung mit dem Bau von Kreuzfahrtschiffen für den globalen Markt. Derzeit arbeiten circa 1200 Mitarbeiter in der Werft von Wismar. Durch den Boom der globalen Kreuzfahrten (der durch die Corona-Krise 2020 inzwischen wieder fragil ist) und die Ansiedlung von weiteren Industrieunternehmen steigt die Zahl der Beschäftigten in Wismar seit 2012.Footnote6 Dadurch besteht seit einigen Jahren ein grosser Fachkräftebedarf der örtlichen Wirtschaft, der ein wesentlicher Treiber für Zuwanderungsstrategien in Wismar ist.

  • Inhalte der Planung: Fachkräfte-Initiative der Wirtschaft

Im Integrierten Stadtentwicklungskonzept, das als «zentrales Steuerungselement der Stadtentwicklung» (Hansestadt Wismar Citation2019: 10) verstanden wird, werden vier Handlungsfelder genannt: 1. Städtebau, Denkmalschutz und Wohnen, 2. Wirtschaft und Verkehr, 3. Wissenschaft, Bildung, Sport und Soziales, 4. Tourismus, Kultur und Freiraum. Trotz dieses umfassenden Ansatzes heisst das Leitbild der Stadtentwicklung: «Wirtschaft, Wissenschaft, Welterbe und Meer» (Hansestadt Wismar Citation2019: 238). Die Reihenfolge der Begriffe zeigt bereits eine Schwerpunktsetzung auf den Wirtschaftsstandort, die mit der Geschichte Wismars als Hafenstadt zusammenhängt. Neben der Erhaltung des baukulturellen Erbes der Altstadt und des Wohnungsneubaus in Wismar werden die Ziele «Entwicklung des maritimen Wirtschaftsstandortes und Schaffung neuer Arbeitsplätze durch Verbesserung der Standortbedingungen und Ausbau der Gewerbegebiete» (Hansestadt Wismar Citation2019: 237) formuliert. Im Stadtentwicklungskonzept wird zugleich eine eher passive Haltung der Stadtverwaltung zu den Themen Zuwanderung und Fachkräftemangel deutlich. Obwohl das Konzept die demografische Entwicklung der Stadt ausführlich behandelt, wird nicht explizit auf die Themen Zuwanderung und Fachkräftemangel eingegangen. Somit werden im Stadtentwicklungskonzept auch keine expliziten Zuwanderungsstrategien erkennbar. Die Stadtplanung versteht die aktive Anwerbung von Zuwanderung nicht als ein kommunales Handlungsfeld, sondern fokussiert sich vielmehr auf die Ansiedlung von Unternehmen (WI6, WI9).

Eine Anwerbung von Fachkräften erfolgt in Wismar und Region vielmehr über die «WOW − Wirtschaftsinitiative Ostseeraum Wismar». Als Vereinigung von neun privaten Unternehmen aus Holzverarbeitung, Gastronomie, IT-Branche, Gesundheitswesen und den MV Werften möchte diese Initiative die Stadt und die Region für Arbeitssuchende attraktiver machen. Auf der Website der Initiative findet man folgendes Leitbild: «Als ansässige und engagierte Unternehmen aus den verschiedensten Branchen wollen wir neue Fachkräfte für unsere Region begeistern. Denn: Nur wenige wissen, dass Nordwestmecklenburg mehr als Sommer, Sonne, Strand bedeutet. Es bietet alles, um nie mehr von hier wegzuwollen. Dennoch wanderten in den letzten 20 Jahren mehr und mehr Menschen aus unserem Land ab. Und so finden selbst international aufgestellte Unternehmen der Region immer weniger geeignete Mitarbeiter. Wir wollen das ändern – und haben deshalb die Wirtschaftsinitiative Ostseeraum Wismar, kurz ‹WOW›, ins Leben gerufen» (Wirtschaftsinitiative Ostseeraum Wismar Citation2019). Neben den Unternehmen als Mitglieder engagieren sich als externe Partner auch der Landkreis Nordwestmecklenburg, die Hansestadt Wismar, die Hochschule Wismar und die Bundesagentur für Arbeit im Netzwerk. Die Vernetzung findet regelmässig in Form zweier Arbeitskreise zu den Themen Wirtschaft & Industrie sowie Hotellerie & Gastronomie statt. Als ein Projekt der Initiative wurde 2018 ein «Welcome-ServiceCenter» eingerichtet, der von der Wirtschaftsförderungsgesellschaft des Landkreises Nordwestmecklenburg getragen wird. Dieses steht für eine «offene Willkommenskultur mit dem Ziel, dass sich neue Fachkräfte in Nordwestmecklenburg schnell einleben und wohlfühlen» (Welcome Service Center Nordwestmecklenburg Citation2019).

  • Prozesse der Planung: Arbeitsteilung zwischen öffentlichen und privaten Akteuren

In der Hansestadt Wismar besteht bei der Anwerbung von Fachkräften eine klare Arbeitsteilung zwischen öffentlichen und privaten Akteuren. Hier sehen sich Politik und Verwaltung für die Bereitstellung von kommunalen Flächen-, Wohnungsund Infrastruktur-Angeboten zuständig, die private Wirtschaft für die Fachkräftegewinnung. Die Rekrutierung der Fachkräfte erfolgt über die Wirtschaftsinitiative Ostseeraum Wismar. Das Selbstverständnis der Stadtpolitik bezüglich des Themas Zuwanderung ist es, Rahmenbedingungen für die Ansiedlung von Unternehmen als Arbeitgeber zu schaffen, und diese aber verantwortlich für die Gewinnung von Fachkräften und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmerinnen sind. Die folgenden Interviewzitate illustrieren die deutliche Arbeitsteilung zwischen öffentlichen und privaten Akteuren in Wismar. Ein Vertreter der Stadtplanung: «Ich glaube auch nicht, dass [Zuwanderung] ein Thema der Verwaltung ist, sondern ich glaube, das ist das Thema der Wirtschaft, und da kann die Verwaltung nur unterstützen» (WI6). Eine Stadtpolitikerin: «Im Prinzip ist das [die Anwerbung von Fachkräften] eine Frage der Wirtschaft. Ich denke, da darf sich auch die Stadt nicht zu weit reinhängen, das darf man nicht vermischen» (WI9). Eine andere Stimme aus der Stadtpolitik: «Aber in der Tat sehe ich das [Fachkräftegewinnung] auch eher bei den Unternehmen, einfach durch vernünftige Arbeitsbedingungen und vernünftige Gehälter, das ist ja oftmals nicht der Fall. Wenn man das macht, glaube ich, dann zieht das auch die entsprechenden Leute an − und klar kann eine Stadt oder Politik die entsprechenden Rahmenbedingungen bieten»(WI10). In Übereinstimmung damit betont ein Vertreter eines lokalen Unternehmens die Eigenverantwortung der Wirtschaft um Fachkräfte anzuwerben: «Wir müssen was machen, weil, wenn [die] Wirtschaft nichts tut, macht es keiner. Die Stadt macht das nicht. Die Stadt kann sich nur um den Nahverkehr, um Schulen, um Verkehrskonzepte und Parkraumkonzepte und irgendwelche Gewerberegularien kümmern. Die kümmern sich nicht darum, dass Fachkräfte hierher kommen, das funktioniert nicht» (WI2). Mit Blick auf das Thema Zuwanderungsstrategien besteht in Wismar also nur eine lose Koalition zwischen der Stadt und den lokalen Wirtschaftsunternehmen. Hierbei geht die Initiative zur Fachkräftegewinnung klar von privaten Unternehmen aus, die auch mit der Wirtschaftsförderung des Landkreises Nordwestmecklenburg zusammenarbeiten. Dagegen positioniert sich die Stadtverwaltung nicht explizit zu den Themen Zuwanderung und Fachkräftemangel und agiert bisher eher reaktiv. Neben der langen Abwanderungsgeschichte der Stadt (die auch in ihrem Fokus auf «Rückkehrer» zum Ausdruck kommt) sowie der Delegation von Aufgaben an den Landkreis (Wismar ist Sitz des Landkreises Nordwestmecklenburg, aber nicht kreisfrei) ist es vor allem ein traditionelles und angebotsorientiertes Verständnis von Stadtentwicklungsplanung, mit dem das Fehlen einer kommunalen Zuwanderungsstrategie erklärt werden kann. In diesem Verständnis hat das Government aus Stadtplanung und Politik nur die Aufgabe, für die Rahmenbedingungen von Ansiedlungen (durch Ausweisung von Gewerbegebieten) und Zuzügen (durch Ausweisung von Wohngebieten und Angebote von sozialen Infrastrukturen) zuständig ist, während die Anwerbung von Fachkräften als eine Aufgabe der privaten Wirtschaft angesehen wird.

5. Steuerung der Zuwanderung auf Bildungsmärkten

Im folgenden Kapitel wird am Beispiel von Göttingen auf Ansätze zur Steuerung der Zuwanderung von Hochqualifizierten eingegangen.

5.1 Göttingen: die Uni als Zuwanderungsmagnet

  • Kontext der Planung: «Wettbewerb um die besten Köpfe»

Göttingen ist eine kleine Grossstadt und akademisch geprägte Universitätsstadt mit circa 135 000 Einwohnern, die in ihrer Geschichte viele Nobelpreisträger hervorgebracht hat. Göttingen wirbt heute mit dem Slogan «Stadt, die Wissen schafft» (Stadt Göttingen Citation2012). Eine strukturprägende Rolle spielt die GeorgAugust-Universität, welche heute mit rund 30 000 Studierenden und 13 000 Arbeitsplätzen die grösste Arbeitgeberin der Region ist. Sie hat Wissenschaftlerinnen, Wissenschaftler und Studierende, die aus insgesamt 130 unterschiedlichen Ländern kommen und ist der eindeutige «Zuwanderungsmagnet» (GÖ8) der Stadt. Daneben gibt es eine Vielzahl weiterer Hochschulund Forschungseinrichtungen, die sich seit den 1970er Jahren in Göttingen angesiedelt haben. Ausserdem sind einzelne Unternehmen aus High-Techund forschungsnahen Branchen (u. a. Sartorius, Otto Bock) wichtige Arbeitgeber in der Stadt. Dieser Konzentration von Hochschulund Forschungsinstituten sowie forschungsnahen Unternehmen ist es zu verdanken, dass die Stadt eine stabile, leicht wachsende Bevölkerungsentwicklung aufweist, die im Kontrast zur negativen Entwicklung im Umland von Südniedersachsen steht.

Nach dem Stadtentwicklungskonzept von 2012 steht Göttingen im «globalen Wettbewerb um qualifizierte und kreative Köpfe» (Stadt Göttingen Citation2012: 24). Die Stadtplanung hat deshalb zum Ziel, Göttingen als «international wettbewerbsfähigen Standort für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie» (Stadt Göttingen Citation2012: 39) zu profilieren. Im Stadtentwicklungskonzept wird unter dem Handlungsfeld «Hochschulen und Wissenschaft» das Ziel der Anwerbung von hochqualifizierten Akademikern und Studierenden explizit aufgegriffen (Stadt Göttingen Citation2012: 38). Dies trifft auch für das Handlungsfeld «Arbeit und Wirtschaft» zu. Hier wird die Gewinnung von Personal für die Wissenschaftsbetriebe als wichtigste Voraussetzung für das demographische und wirtschaftliche Wachstum der Stadt gesehen. Die internationale Ausrichtung der Universität gilt dabei als wichtiger Standortfaktor im Wettbewerb. Dabei versteht sich die Universtität in direkter Konkurrenz mit weltweit führenden Eliteuniversitäten: «Da vergleichen wir uns schon gerne mit anderen Top Uni-Städten wie Oxford oder Cambridge» (GÖ6), so eine Mitarbeiterin der Universität. In den vor Ort geführten Interviews wird jedoch mehrfach die Schwierigkeit angesprochen, offene Stellen an der Universität und in forschungsnahen Unternehmen zu besetzen (GÖ11, GÖ16). Als möglicher Erklärungsgrund hierfür werden die geringe Grösse im Wettbewerb mit Metropolen und die mangelnde Attraktivität der Stadt genannt. So klagt eine Universitätsmitarbeiterin: «als Universität in so einer kleinen provinziellen Stadt, haben wir Schwierigkeiten, wirklich gute und attraktive Leute zu kriegen» (GÖ11).

  • Inhalte der Planung: Stadt als Campus-Projekt

Um im internationalen Wettbewerb mitzuhalten, hat die Universität eine eigene Internationalisierungsstrategie entwickelt (Universität Göttingen Citation2013). Darin wird die Rolle ihrer lokalen Einbettung in die kleine Grossstadt betont. Danach gilt es, Göttingen für potenzielle Zuwandernde attraktiv zu machen und zu vermarkten, wofür die Universität auf die Zusammenarbeit mit lokalen Akteuren angewiesen ist. Das Projekt «Göttingen Research Campus» (Göttingen Campus 2019) hat zum Ziel, die Universität und andere wissenschaftliche Einrichtungen in «enger Verzahnung mit dem Göttinger Stadtbild zu begreifen und Göttingen als Stadt der kurzen Wege für Wissenschaftler attraktiv zu machen» (GÖ 6). Diese pro-aktive Haltung der Universität in der Göttinger Stadtentwicklung ist vor allem auf die Beteiligung an der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder zurückzuführen, die Spitzenforschung prämiert und sogenannte «Exzellenzuniversitäten» ernennt. Die Bewerbung um einen solchen Titel, der zusätzliche Finanzmittel und Stellen einbringt, unterstreicht zum einen die Wachstumsziele der Universität. Zum anderen ist die Bewerbung in der Exzellenzstrategie ausschlaggebend dafür, dass die Universität sich in der Stadt engagiert (GÖ11). Ein weiteres Beispiel für die proaktive Rolle der Universität wird auch im Projekt des lokalen Welcome Centers deutlich. Die 2017 gegründete Initiative ging von der Universität aus und hat zum Ziel, die Region Südniedersachsen und die Stadt Göttingen für Fachkräfte und internationale Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler attraktiv zu machen, indem sie Wissenschaft, Wirtschaft und kommunale Verwaltung vernetzt. Angeboten werden verschiedene Services wie beispielsweise Hilfe bei der Wohnungssuche, Kinderbetreuung oder Arbeitsplatzsuche. Ein neues Welcome-Center soll in Zusammenarbeit von Stadt, Landkreis und Universität seinen Sitz zukünftig am Hauptbahnhof finden.

  • Prozesse der Planung: die proaktive Rolle der Universität

Die proaktive Rolle der Universität in der Stadtentwicklung ist eine relativ junge Entwicklung. Lange Zeit bestand eine Kluft zwischen der Universität als akademische Landeseinrichtung und der Stadt, wodurch Planungen und Strategien von Universitätsund Stadtverwaltung wenig abgestimmt wurden. Die Universität wurde seitens der Stadt als «eigener Planet» (GÖ15) wahrgenommen, die Stadt seitens der Universität als «Dorf» und «Provinz» (GÖ5) belächelt. Die Zusammenarbeit zwischen Universität und Stadt hat sich seitdem verbessert. Dazu beigetragen hat der Arbeitskreis «Wissenschaft/Hochschulen», der 1996 im Rahmen des Stadtmarketings gegründet wurde und in dem alle grossen wissenschaftlichen Einrichtungen vertreten sind (GÖ9). Das Projekt Göttingen Campus und eine 2016 neu eingerichtete Referentenstelle zur «strategischen Planung» im Referat des Oberbürgermeisters sollen dazu dienen, die Kommunikation zwischen Akteuren aus Verwaltung, Wissenschaft und Wirtschaft weiter zu verbessern (GÖ8). Auf regionaler Ebene hat sich aufgrund des Fachkräftemangels ein Fachkräftebündnis Südniedersachsen gebildet. In Göttingen besteht damit eine wettbewerbsgetriebene Koalition zwischen Stadtpolitik, Planung und Universität. Aufgrund des Leitbildes «Stadt, die Wissen schafft» setzt das Stadtentwicklungskonzept einen klaren Schwerpunkt auf die Universität und Forschungseinrichtungen.

6. Zusammenfassung und Diskussion der Ergebnisse

6.1 Planungskontexte: warum wird geplant?

Wesentliche Treiber für Zuwanderungspolitiken von Städten sind der demografische Wandel, der Fachkräftebedarf der Wirtschaft und die «Konkurrenz um die besten Köpfe». Eine weitere treibende Kraft sind lokale Wachstumspolitiken. Das politische Ziel eines Bevölkerungswachstums erklärt sich vor allem mit dem Motiv, die kommunalen Finanzen zu sichern und zu verbessern. Im Vergleich der Fallstudien zeigt sich, dass im Kontext schrumpfender Städte aufgrund von Wohnungsleerständen und offenen Arbeitsstellen ein stärkerer Handlungsdruck für die proaktive Anwerbung von Zuwanderung entsteht. Dagegen nehmen Städte im Wachstumskontext Zuwanderung aufgrund von Wohnungsknappheit eher aus der Problemperspektive («Druck» bzw. «Stress») wahr. Da in wachsenden Städten Zuwanderung über die Nachfrage auf den Wohnungsund Arbeitsmärkten auch ohne eine planerische Steuerung erfolgt, sehen die Akteure hier oft keinen Bedarf für Strategien, um noch mehr Zuwanderung anzuziehen. Denn in vielen wachsenden Städten führt ein anhaltender Zuzugsboom zu sog. «Wachstumsschmerzen». Die mit der Verknappung und Verteuerung von Wohnraum einhergehenden Engpässe auf den Wohnungsmärkten und der notwendige Ausbau sozialer und technischer Infrastrukturen stellen in diesem Kontext drängende Probleme in der Stadtpolitik dar. Beispiele dafür sind die Universitätsstädte Göttingen und Jena, deren Wohnbevölkerung seit 2010 leicht gewachsen ist, die aber kaum über Flächenreserven zur städtebaulichen Erweiterung oder Möglichkeiten der Eingemeindung verfügen. Der Zuzug von Studierenden, Hochqualifizierten und Fachkräften verstärkt in beiden Unistädten die lokale Wohnungsknappheit und führt zu steigenden Mietund Baulandpreisen. In beiden Städten haben sich deshalb bereits Bündnisse für bezahlbaren Wohnraum gebildet. Diese Kontextabhängigkeit von lokalen Zuwanderungspolitiken (Boeth Citation2020) widerspricht in der Stadtund Migrationsforschung der Erwartung eines Wandels im Umgang mit Zuwanderung von einer Problemzur Potenzialperspektive (Pütz, Roddatz 2013; Räuchle Citation2018). Unser Befund deckt sich eher mit Forschungsergebnissen zu kanadischen Städten, wonach nichtmetropolitane, kleinere Städte in ländlichen Provinzen proaktiver um Zuwanderer werben, während die wachsenden Metropolen Toronto und Vancouver in der Anwerbung passiver sind und ihre Politiken stärker auf die Integration der Migranten richten (Schmidtke 2018).

6.2 Planungsinhalte: was wird geplant?

Im Hinblick auf die Steuerung von Zuwanderung setzen Planungskonzepte der Stadtverwaltung einen Schwerpunkt auf den Wohnungsmarkt (Bamberg, Brandenburg an der Havel) oder den Arbeitsmarkt, hier entweder für qualifizierte Fachkräfte (Jena, Wismar) oder Hochqualifizierte (Göttingen). Die Fallstudien zeigen, dass Städte bisher dabei kaum explizite, aber implizite Zuwanderungsstrategien entwickeln. Wenn in Stadtentwicklungskonzepten Ziele wie «Steigerung der Attraktivität», «Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit» oder «wachsende Stadt» formuliert werden, dann impliziert dies einen Steuerungsanspruch von Zuwanderung. Stadtentwicklungskonzepte enthalten meist Kapitel zur demografischen Entwicklung und Bevölkerungsprognosen, viele treffen auch Aussagen über gewünschte Zuzugsgruppen. Aber in keiner der Fallstädte wurde eine eigene kommunale Zuwanderungsstrategie entwickelt, welche Zielgruppen und Zuwanderungsbedarfe definiert und mit konkreten Projekten und Massnahmen verbindet. In Brandenburg an der Havel wird eine Zuzugsstrategie von einigen Akteuren gefordert, gleichzeitig wurden die Hemmnisse beschrieben, die dies in der planungspolitischen Praxis bisher verhindert haben. Die Entwicklung von Zuwanderungsstrategien zu einem neuen Politikfeld von Städten erweist sich deshalb als sehr voraussetzungsvoll.

In der Planungspraxis der Städte lassen sich die Ziele der Anwerbung und des Haltens von Bevölkerung unterscheiden. Die Anwerbung zielt auf den Zuzug von neuen Bewohnern oder Fachkräften von aussen. Das Halten versucht, die Abwanderung von ansässigen Bewohnern zu vermeiden. Letzteres betrifft vor allem die Abwanderung von Hochschulabsolventen nach Studienabschluss oder von Familien in das Stadtumland. Im Hinblick auf die Steuerung von Zuzügen lassen sich drei verschiedene Phasen lokaler Zuwanderungspolitiken unterscheiden: Anwerbung, Ankommen und Integration. Die Phase der Anwerbung erfolgt durch die gezielte Rekrutierung der Arbeitgeber in den Herkunftsgebieten oder Angebote von Wohnungsunternehmen und kann durch Stadtmarketing bzw. Wirtschaftsförderung z. B. durch Auftritte im Internet oder auf Messen ergänzt werden. Die Ankunftsphase bezieht sich darauf, die Entscheidung zum Zuzug zu unterstützen. Hier setzen die Welcome-Center mit ihren Leistungen an, die in zahlreichen Städten und Landkreisen eingerichtet wurden. Die letzte Phase von Zuwanderungspolitiken, die Integration, bezieht sich auf die längerfristige oder dauerhafte Niederlassung in der Stadt, deren Basis eine erfolgreiche Jobund Wohnungssuche ist. Hier setzen die Integrationskonzepte der Städte an.

6.3 Planungsprozesse: wie wird geplant?

Um Zuwanderungen auf der lokalen Ebene steuern zu können, ist die Stadtplanung von verschiedenen Akteuren abhängig: 1. Auf den Wohnungsmärkten ist sie vom Willen der Stadtpolitik abhängig, die Instrumente der kommunalen Wohnungsund Baulandpolitik zu nutzen, um Wohnungsangebote für breitere Zielgruppen zu schaffen. Dies ist in marktliberal regierten Städten oft nicht der Fall. Hier wird der Wohnungsbau eher privaten Investoren überlassen, die auf hochpreisige Eigentumswohnungen setzen. 2. Auf den Arbeitsmärkten ist die Wirtschaftsförderung von den Stellenangeboten privater und öffentlicher Unternehmen abhängig, um Welcome-Center erfolgreich zu betreiben. Der Fachkräftemangel erklärt sich zum Teil auch mit der geringen Lohnhöhe der Unternehmen. 3. Auf den akademischen Bildungsmärkten ist die Stadtplanung von Hochschulen abhängig, auf die sie als Landeseinrichtungen keinen direkten Einfluss hat. Diese strukturellen Abhängigkeiten der Stadtverwaltung zeigen, dass Formen der Urban Governance eine entscheidende Bedingung für die Steuerungsfähigkeit von Zuwanderung sind. Unter den verschiedenen Governance-Typen in der Stadtforschung erklärt vor allem der pro-growth-Typ die Herausbildung von Zuwanderungspolitiken. Eine klassische öffentlich-private Wachstums-Koalition lässt sich in Jena nachweisen, wo die Zusammenarbeit zwischen Wirtschaft und Stadt eng und historisch gewachsen ist. Hier haben Wirtschaftsunternehmen, die aus der Stadtverwaltung als GmbH ausgelagerte Wirtschaftsförderung und die Stadtpolitik eine handlungsfähige Allianz für Fachkräfte gebildet, welche eine kommunale Wachstumspolitik forciert. Eine korporatistische Wachstums-Koalition kann auch zwischen öffentlichen Akteuren entstehen. In Göttingen ist die Universität ein treibender Akteur für die Wettbewerbsfähigkeit der Stadt auf den internationalen Bildungsmärkten. Die Fallstudie hat gezeigt, dass Universitäten zu wichtigen Playern und aktiven Treibern für lokale Wettbewerbsund Wachstumspolitiken werden können. Obwohl Universitäten in Deutschland meist öffentliche Institutionen sind, wird eine neoliberale Wettbewerbs-Orientierung zu einem leitenden Handlungsmotiv der Akteure. Das Verhältnis von Universität und Stadtverwaltung ist dabei durchaus spannungsreich: Die Universitäten wirken einerseits als Magneten für Zuwanderung und damit als Treiber für das Wachstum der Städte. Andererseits entziehen sie sich als Landeseinrichtungen der lokalen Steuerung durch die Städte und erzeugen Engpässe auf den lokalen Wohnungsmärkten, die wiederum Bündnisse für bezahlbaren Wohnraum erfordern. Unsere weiteren Fallstudien deuten allerdings darauf hin, dass Urban Governance-Formen in der Zuwanderungspolitik weniger die Regel und mehr die Ausnahme sind. In mehreren Mittelstädten sind wir auf blockierte Koalitionen zwischen den Akteuren gestossen. Die Gründe für blockierte Koalitionen sind vielfältig: 1. Ein traditionelles Planungsverständnis, das die Aufgaben zwischen öffentlichen und privaten Akteuren in der Fachkräfteanwerbung klar trennt (Wismar). 2. Eine marktliberale Stadtpolitik, die den Wohnungsbau weitgehend privaten Investoren überlässt und den Wohnungsbau durch kommunale Unternehmen vernachlässigt (Bamberg, Brandenburg an der Havel). 3. Differenzen zwischen Stadtverwaltung und Stadtpolitik (Bamberg, Brandenburg an der Havel). 4. Wachstumskritische Positionen von Bürgern und Parteien, die sich primär gegen die Verteuerung des Wohnens und neue Bauprojekte, aber bisher nicht gegen Zuwanderung richten (Göttingen, Jena, Bamberg).

7. Fazit: Steuerbarkeit der Zuwanderung durch Stadtplanung

Im Folgenden werden einige Schlussfolgerungen für Stadtplanung und -politik in Bezug auf die Leitfragen des Beitrags gezogen, deren Verallgemeinerbarkeit auf der Basis der sechs Fallstudien, der Fallstudienvergleiche und des Expertenworkshops nicht ausreichend gesichert ist, aber zur Diskussion gestellt werden sollen. Unsere Fallstudien zeigen, dass Wanderungen auf den Wohnungs-, Arbeitsund Bildungsmärkten in den Städten auf komplexe Weise zusammenwirken. Der Zuzug von Studierenden und Hochqualifizierten auf den Bildungsund Arbeitsmärkten führt in Hochschulstädten zu angespannten Wohnungsmärkten, die mit Problemen steigender Mieten und Abwanderung ins Umland einhergehen. Gleichzeitig sind Hochschulstädte oft durch eine strukturelle Abwanderung von Fachkräften gekennzeichnet, da die Stellenangebote auf dem lokalen Arbeitsmarkt nicht ausreichen, um Absolventen zu halten. In wachsenden Mittelstädten, die sowohl auf den Wohnungs-, Arbeitsund Ausbildungsmärkten Zuwanderungen anziehen, verschärfen sich ebenso die Probleme des Wohnungsmangels, so dass eine weitere Zuwanderung von der Stadtplanung weniger als Chance, sondern eher als Problem betrachtet wird. Durch diese Interdependenzen zwischen Wohnungsund Arbeitsmärkten erweist sich die lokale Steuerung von Zuwanderung als eine kommunale Querschnittsaufgabe, die – ähnlich wie in der Integrationspolitik − verschiedene Ressorts umfasst: neben der Stadtplanung die kommunale Wohnungswirtschaft, die Wirtschaftsförderung und in manchen Fällen auch das Stadtmarketing und die Ausländerbehörde. Führt die Zuwanderung zu einem anhaltenden Bevölkerungswachstum, dann ist auch die kommunale Bildungsund Infrastrukturplanung (u. a. Kitas, Schulen, ÖPNV) gefordert.

Zusammenfassend zeigen unsere Fallstudien, dass sich die verschiedenen Formen von Zuwanderung nur begrenzt auf der lokalen Ebene steuern lassen. Die Herausbildung eines neuen kommunalen Politikfeldes der proaktiven Anwerbung der Zuwanderung ist deshalb nur unter ganz bestimmten Bedingungen zu erwarten. Im Schrumpfungskontext ist das Problem der Abwanderung von Fachkräften in der Politik noch sehr präsent, Zuwanderungsbedarfe werden seitens der Wohnungswirtschaft durch Immobilienleerstände und Unternehmen durch den Fachkräftemangel deutlicher gegenüber der Stadtpolitik formuliert. Im Wachstumskontext erfolgen Zuwanderungsprozesse auch ohne planerische Steuerung und die Schattenseiten des Zuzugs – vor allem knappe und teure Wohnungen − rücken in der Stadtpolitik in den Vordergrund. Diese Kontextabhängigkeit der kommunalen Zuwanderungspolitik widerspricht der Erwartung in der Migrationsforschung eines Wandels von der Problemzur Potenzial-Perspektive. Abschliessend werden deshalb die Chancen und Hemmnisse einer proaktiven Steuerung von Zuwanderung durch die Stadtplanung dargestellt.

7.1 Chancen der Steuerung

Die Zuwanderung in Städte erfolgt in marktliberalen Ländern wesentlich über Wohnungs-, Stellenund Bildungsangebote, die als Magnete wirken. Eine besondere Chance der lokalen Steuerung durch Städte liegt in der Schaffung von kommunalen Wohnungsangeboten für bestimmte Zielgruppen. Stadtpolitik und Stadtkämmereien sind eher am Zuzug einkommensstarker Bewohner interessiert, da diese als Steuerzahler die Stadtkasse verbessern und nicht durch Sozialleistungen belasten. Im Hinblick auf den Zuzug von Besserverdienenden und Hochqualifizierten bestehen deshalb «heimliche Allianzen» zwischen privaten Investoren und Stadtpolitik, da private Investoren meist hochpreisige (Eigentums-)Wohnungen für Besserverdienende bauen. Eine Stärkung des kommunalen Wohnungsbaus bleibt dagegen politisch oft sehr umstritten.

Die Wirtschaftsförderung kann die Zuwanderung von Arbeitskräften durch Service-Angebote von Welcome-Centern beeinflussen. Bei den Leistungen der Welcome-Center handelt es sich aber eher um Ankommensals um Anwerbestrategien. Die Steuerung der Zuwanderung erweist sich insgesamt als eine Querschnittsaufgabe der Verwaltung, an der neben der Stadtplanung auch die Ressorts Wohnen, Wirtschaftsförderung, Ausländerbehörden und Stadtmarketing beteiligt sind. Ressortübergreifende Ansätze der Stadtverwaltung erhöhen die Steuerungschancen, da Arbeitsund Wohnungsmärkte eng zusammenhängen. So wägen (hoch-)qualifizierte Fachkräfte ein Arbeitsangebot oftmals mit den Wohnungsangeboten und der allgemeinen Lebensqualität der Stadt ab. Die wichtigste Bedingung für eine lokale Steuerungsfähigkeit von Zuwanderung sind Governance-Netzwerke. Unsere Studien legen allerdings nahe, dass diese sehr voraussetzungsvoll sind und in vielen Fällen durch Differenzen oder Konflikte zwischen Akteuren in Verwaltung, Politik, Wirtschaft und Bürgerschaft blockiert werden.

7.2 Grenzen der Steuerung

Unsere Fallstudien zeigen, dass es viele Grenzen der lokalen Steuerbarkeit von Zuwanderung gibt. Grenzen in der Steuerung der internationalen Migration bestehen durch die starke Abhängigkeit der Städte von staatlichen Zuwanderungspolitiken. Die liberale Öffnung des EU-Binnenmarktes hatte weitreichende Folgen für die Zuwanderung von Arbeitsmigranten in die Städte. Der Zuzug von Arbeitsmigranten aus-serhalb der EU und Geflüchteten sowie der Familiennachzug werden auf höheren staatlichen Politikebenen geregelt, Städte können hier meist nur reagieren. In den Universitätsstädten entziehen sich die Bildungsangebote der Hochschulen weitgehend einer kommunalen Steuerung. Die in vielen Städten sehr erwünschten und umworbenen Hochqualifizierten sind zugleich eine besonders mobile Zielgruppe, welche schwer zu halten sind und leichter auch wieder abwandern. Viele Akademiker pendeln lieber, als sich für einen festen Wohnsitz in einer Kleinund Mittelstadt zu entscheiden. Ein weiteres Hemmnis für die Steuerbarkeit liegt in unsicheren Prognosen, da Wanderungsbewegungen eine hohe Dynamik aufweisen. So hat sich gezeigt, dass Bevölkerungsprognosen als Grundlage für Stadtentwicklungskonzepte oft falsch liegen, da Trendwenden von Wanderungen kaum vorherzusehen sind. Aktuell ist unklar, wie sich die Corona-Krise auf die internationale Zuwanderung in die Städte auswirken wird. Ein weiterer limitierender Faktor für die Zuwanderung auf dem Wohnungsmarkt sind Engpässe beim Bauland, da viele Städte ihre Flächenreserven weitgehend ausgeschöpft haben, Stadt-Umland-Kooperationen in der Praxis schwierig sind und Eingemeindungen heute politisch meist nicht durchsetzbar sind. Setzt die Stadtpolitik dennoch auf einen Wachstumskurs, können Konflikte mit Bürgern entstehen, die gegen steigende Wohnkosten und eine weitere Bebauung und Verdichtung protestieren. Dennoch überwiegt bisher in den Städten eine Wachstumsorientierung in Politik und Planung, nicht zuletzt weil die Stadtfinanzen davon abhängen. Im Hinblick auf die Prozesse der Planung sind blockierte Governance-Formen zwischen den Akteuren in Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Bürgerschaft ein Hemmnis für die lokale Steuerung von Zuwanderung. Solche Blockaden können verschiedene Ursachen haben: inhaltliche Differenzen zwischen Politik und Verwaltung, ein arbeitsteiliges Rollenverständnis zwischen Stadt und Unternehmen, eine marktliberale Stadtpolitik, die den Wohnungsmarkt privaten Investoren überlässt oder Konflikte mit Bürgern, die sich aus den Wachstumspolitiken der Städte ergeben. Die Ergebnisse unseres Projektes bestärken die Kritik am normativen Kooperationsoptimismus in der bisherigen Governance-Forschung und verweisen darauf, dass die lokale Planungsforschung die Möglichkeiten eines «Governance-Versagens» (Jessop Citation2000; Schmitt, Wiechmann Citation2018) stärker untersuchen sollte.

Danksagung

Ich möchte der DFG für die Projektförderung und -verlängerung (AOBJ: 640735) sowie Gala Nettelbladt und Henning Boeth für ihre engagierte und konstruktive Mitarbeit in diesem Projekt danken. Beide haben wesentlich zu den empirischen Fallstudien und der Diskussion der Ergebnisse beigetragen.

Additional information

Notes on contributors

Manfred Kühn

Dr. Manfred Kühn ist Senior Researcher und stellvertretender Leiter der Forschungsabteilung «Regenerierung von Städten» am Leibniz-Institut für Raumrbezogene Sozialforschung (IRS) in Erkner. Er forscht zu lokalen Planungspolitiken und ist Mitglied der Akademie für Raumentwicklung in der Leibniz-Gemeinschaft (ARL).

Notes

1 Als Fachkräfte werden dabei nicht nur die akademisch ausgebildeten Hochqualifizierten bezeichnet, sondern auch beruflich qualifizierte Fachkräfte (SVR 2018; Fuchs, Kubis Citation2017).

2 Die Fallstudienreports zu den sechs Städten enthalten ausführliche Analysen und Ergebnisse und sind unter https://leibniz-irs.de/wissenstransfer/transferpublikationen/irs-dialog abrufbar. Hier werden auch die Interviews in anonymisierter Form nachgewiesen.

3 Im Einzelnen: Göttingen: 18; Jena: 16; Brandenburg an der Havel: 14; Bamberg: 12, Wismar: 10; Ravensburg: 10.

4 Der Expertenworkshop fand aufgrund der Corona-Pandemie in digitaler Form am 19. November 2020 statt. Als Expertinnen und Experten aus der Praxis nahmen sechs Vertreterinnen und Vertreter aus den Fallstädten sowie als Expertin aus der Forschung Antonia Milbert (BBSR) teil.

5 Auf die Fallstudie Ravensburg wird in diesem Aufsatz nicht eingegangen, da hier die Frage des Zusammenspiels von Integrationsund Zuwanderungspolitiken im Mittelpunkt steht.

6 Die Corona-Pandemie hat zu einer neuen Krise der Kreuzschifffahrt geführt, deren Folgen für die Werftindustrie noch nicht abzusehen sind.

Literatur

  • BBSR – Bundesinstitut für Bau-, Stadtund Raumforschung (Hrsg.) (2014): Wie können Kommunen für qualifizierte Zuwanderer attraktiv werden? Bonn. <BBSR-Online-Publikation, 10/2014.
  • BBSR − Bundesinstitut für Bau-, Stadtund Raumforschung (Hrsg.) (2018): Zuwanderung in die Städte. BBSR-Analysen kompakt, 09/2018; Bonn.
  • Berding, U. (2008): Migration und Stadtentwicklungspolitik. Eine Untersuchung am Beispiel ausgewählter Stadtentwicklungskonzepte. Saarbrücken.
  • Blatter, J.; Janning, F.; Wagemann, C. (2007): Qualitative Politikanalyse. Eine Einführung in Forschungsansätze und Methoden. Wiesbaden.
  • Boeth, H. (2021): Möglichkeiten der kommunalen Steuerung von Reurbanisierung in Mittelstädten: Eine vergleichende Analyse von Planungspolitiken und Governance-Formen, Dissertation im Fach Geographie der Humboldt-Universität zu Berlin (unveröff. Manuskript).
  • Boeth, H. (2020): Steuerungsmöglichkeiten öffentlicher Akteure zur Reurbanisierung von Mittelstädten. Eine Analyse am Beispiel Bambergs. Raumforschung und Raumordnung | Spatial Research and Planning, 78 (6), S. 521–535. doi: 10.2478/rara-2020-0024
  • Brake, K.; Herfert, G. (Hrsg.) (2013): Reurbanisierung. Wiesbaden.
  • Buch, T.; Hamann, S.; Niebuhr, A.; Rossen, A. (2014): What Makes Cities Attractive? The Determinants of Urban Labour Migration in Germany. Urban Studies, 51 (9), S. 1960–1978. doi: 10.1177/0042098013499796
  • Flick, U. (2011): Triangulation. Eine Einführung. 3. Auflage. Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften (= Qualitative Sozialforschung, Bd. 12).
  • Fuchs, J.; Kubis, A. (2017): Demographie und Fachkräftemangel: Warum Deutschland qualifizierte Zuwanderer braucht. In Bertelsmann-Stiftung (Hrsg.), Faire Fachkräftezuwanderung nach Deutschland. Gütersloh, S. 27–44.
  • Fürst, D. (2005): Entwicklung und Stand des Steuerungsverständnisses in der Raumplanung. disP − The Planning Review, 41 (163), S. 16–27. doi: 10.1080/02513625.2005.10556937
  • Fürst, D. (2018): Planung. In Akademie für Raumforschung und Landesplanung (Hrsg.), Handwörterbuch der Stadtund Raumentwicklung. Hannover, S. 1711–1719.
  • Gans, P.; Glorius, B. (2014): Internationale Migration – Forschungsansätze und -perspektiven. In Gans, P. (Hrsg.), Räumliche Auswirkungen der internationalen Migration (= Forschungsberichte der ARL, 3). Hannover, S. 10–31.
  • Geddes, A.; Scholten, P. (2016): The politics of migration and immigration in Europe, 2nd edition. London: Sage.
  • Gesemann, F.; Roth, R. (Hrsg.) (2018): Handbuch lokale Integrationspolitik. Wiesbaden.
  • Gestring, N. (2014): Widersprüche und Ambivalenzen kommunaler Integrationskonzepte. In Gans, P. (Hrsg.), Räumliche Auswirkungen der internationalen Migration (= Forschungsberichte der ARL, 3). Hannover, S. 311–326.
  • Häussermann, H. (2006): Desintegration durch Stadtpolitik. Aus Politik und Zeitgeschichte, 40/41, S. 14–22.
  • Hampshire, J. (2013): The Politics of Immigration. Contradictions of the Liberal State. Cambridge.
  • Heinelt, H. (Hrsg.) (1994): Zuwanderungspolitik in Europa. Nationale Politiken. Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Opladen.
  • Imani, D.; Otto, M.; Wiegandt, C. (2015): Kommunale Willkommenskultur für hochqualifizierte Migranten. Was können Städte leisten? Standort, 39, S. 17–21. doi: 10.1007/s00548-015-0363-3
  • Jessen, J.; Siedentop, S. (2018): Reurbanisierung. In Akademie für Raumforschung und Landesplanung (Hrsg.), Handwörterbuch der Stadtund Raumentwicklung. Hannover, S. 2073–2083.
  • Jessop, B. (2000): The Dynamics of Partnership and Governance Failure. In Stoker, G. (Hrsg.), The New Politics of Local Governance in Britain. Basingstoke: Macmillan, S. 11–32.
  • Kühn, M. (2018): Immigration Strategies of Cities – Local Growth Policies and Urban Planning in Germany. European Planning Studies, 26 (9), S.1747–1762. doi: 10.1080/09654313.2018.1484428
  • Kuptsch, Ch.; Pang, E. F. (Hrsg.) (2006): Competing for global talent. Genf: International Labour Organisation.
  • Pierre, J. (2011): The Politics of Urban Governance. London: Palgrave. Macmillan.
  • Plöger, J.; Dittrich-Wesbuer, A. (2018): Multiple Ortsbezüge – Hochmobile Beschäftigte als Zielgruppe der Stadtpolitik? ILS-Trends, 3/18, S. 1–8.
  • Pütz, R.; Rodatz, M. (2013): Kommunale Integrationsund Vielfaltskonzepte im Neoliberalismus. Zur strategischen Steuerung von Integration in deutschen Großstädten. Geographische Zeitschrift, 101−103 (3+4), S. 166–183.
  • Räuchle, C. (2018): Migration als urbane Ressource? Soziale Deutungsmuster lokaler Governance-Akteure im Vergleich. Zeitschrift für vergleichende Politikwissenschaft, 1, S. 43–58. doi: 10.1007/s12286-017-0370-9
  • Schamann, H.; Kühn, B. (2016): Kommunale Flüchtlingspolitik in Deutschland. Bonn: FriedrichEbert-Stiftung, .
  • Schmidtke, O. (2019): The local governance of migration – lessons from the immigration country Canada. In Kühn, M.; Münch, S. (Hrsg.), Themenheft: Steuerung der Zuwanderung – ein neues Politikfeld für Kommunen? disP − The Planning Review, 55 (3), S. 31–42. doi: 10.1080/02513625.2019.1670986
  • Schmitt, P., Wiechmann T. (2018): Unpacking Spatial Planning as the Governance of Place. disP – The Planning Review, 54 (4), S. 21–33. doi: 10.1080/02513625.2018.1562795
  • Simons, H., Weiden L. (2016): Schwarmverhalten, Reurbanisierung und Suburbanisierung. Informationen zur Raumentwicklung, 3, S. 263–274.
  • Scholten, P.; Penninx, R. (2016): The Multilevel Governance of Migration and Integration. In Garcés-Mascareñas, B.; Penninx, R. (Hrsg.), In-tegration Processes and Policies in Europe, IMISCOE Research Series, S. 91–108.
  • SVR – Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (2018): Steuern, was zu steuern ist: Was können Einwanderungsund Integrationsgesetze leisten? Jahresgutachten 2018. Berlin.
  • Wiechmann, T. (2019): Einleitung: Zum Stand der deutschsprachigen Planungstheorie. In Wiechmann, T. (Hrsg.), ARL Reader Planungstheorie, Bd. 1, Berlin, S. 1–12.
  • Wiegandt, C.C., Milbert, A. (2019): Binnenwanderung in Deutschland – Entwicklungen nach der Wiedervereinigung. Geographische Rundschau, 3, S. 10–16.
  • Zapata-Barrero, R., Caponio, T., Scholten, P. (2017): Theorizing the «local turn» in a multilevel governance framework of analysis. A case study in immigrant policies. International Review of Administrative Sciences, 83 (29), S. 241–246. doi: 10.1177/0020852316688426

Kommunale Dokumente

Bamberg

  • Stadt Bamberg (2006): Kernstadt-Stadtentwicklungsplan Wohnen mit besonderer Berücksichtigung der möglichen militärischen Konversion. Wohnraumversogungskonzept für die Stadt Bamberg bis 2020. Bamberg.
  • Stadt Bamberg (2011): Gesamtstädtisches städtebauliches Entwicklungskonzept. Abschlussdokumentation. Bamberg.
  • Stadt Bamberg (2013): Fortschreibung des Stadtentwicklungsplans Wohnen bis zum Jahr 2030 unter Berücksichtigung der Konversion der Warner Barracks. Bamberg.
  • Stadt Bamberg (2014): Fortschreibung Gesamtstädtisches städtebauliches Entwicklungskonzept. Perspektive Ost | Bamberger Konversionen. Bamberg.
  • Stadt Bamberg (2016): Zweite Fortschreibung des Stadtentwicklungsplans Wohnen bis zum Jahr 2030. Bamberg.

Brandenburg an der Havel

Göttingen

Jena

Wismar