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ARTICLES

Kanonische Dramen der Aufklärung und ihre Aktualität als didaktische Herausforderung

 

ABSTRACT

The canonical status and topicality of literary texts of the German Enlightenment are often cited as good reasons to teach these texts. In practice, however, the canonical status favours an uncritical approach to literature and leads to the omission of numerous sources that could serve to gain significant insights into the literary life of the time; and the postulate of topicality invites students to neglect the historical quality of the Enlightenment as well as the difference between fact and fiction. Using the example of drama, the article identifies these problems and outlines teaching options that arise from a critical engagement with canon and topicality. It also suggests that teaching the literature of the German Enlightenment is not necessarily easier in German-speaking countries than it is in other parts of the world.

Notes

1 Auf den Nachweis kanonischer Titel wird hier verzichtet; sie liegen alle in verschiedenen, gut greifbaren Werk- und Studienausgaben vor. Lediglich weniger bekannte Dramen werden vollständig nachgewiesen.

2 Vgl. etwa Heinz Paetzold, ‘Rhetorik-Kritik und Theorie der Künste in der philosophischen Ästhetik von Baumgarten bis Kant’, in Von der Rhetorik zur Ästhetik: Studien zur Entstehung der modernen Ästhetik im 18. Jahrhundert, hrsg. von Gérard Raulet (Rennes: Centre de recherche PHILIA, 1992), S. 9–40.

3 Prominent vorgetragen von Lessing in seinem Angriff auf Gottscheds Dramaturgie im siebzehnten der Briefe die neueste Literatur betreffend, in Gotthold Ephraim Lessing, Werke und Briefe in 12 Bänden, hrsg. von Wilfried Barner zusammen mit Klaus Bohnen und anderen (Frankfurt/Main: Deutscher Klassiker-Verlag, 1985–2003), iv: Werke 1758–1759, hrsg. von Gunter E. Grimm (1997), S. 500: ‘Er hätte aus unsern alten dramatischen Stücken, welche er vertrieb, hinlänglich abmerken können, daß wir mehr in den Geschmack der Engländer, als der Franzosen einschlagen; daß wir in unsern Trauerspielen mehr sehen und denken wollen, als uns das furchtsame französische Trauerspiel zu sehen und zu denken giebt; daß das Große, das Schreckliche, das Melancholische, besser auf uns wirkt als das Artige, das Zärtliche, das Verliebte; daß uns die zu große Einfalt mehr ermüde, als die zu große Verwickelung etc. Er hätte also auf dieser Spur bleiben sollen, und sie würde ihn geraden Weges auf das englische Theater geführet haben. —’

4 Vgl. hierzu Monika Fick, Lessing-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung, 4., aktual. und erw. Aufl. (Stuttgart: Metzler, 2016), S. 347–60.

5 Vgl. Johann Christoph Gottsched, Versuch einer Critischen Dichtkunst, 4., sehr vermehrte Aufl. (Leipzig: Breitkopf, 1751).

6 Eine konzise Darstellung dieser und weiterer relevanter Kontexte findet man bei Fick, S. 445–48.

7 Lessing an Elise Reimarus, die Tochter Hermann Samuel Reimarus’, des ‘Unbekanten’, dessen Fragmente er veröffentlicht hatte, am 6. September 1778, in Werke und Briefe in 12 Bänden, XII: Briefe von und an Lessing 1776–1781, hrsg. von Helmuth Kiesel unter Mitwirkung von Markus Reppner, Antje Büssgen, Kirsten Burmeister (1994), 193: ‘Ich muß versuchen, ob man mich auf meiner alten Kanzel, auf dem Theater wenigstens, noch ungestört will predigen lassen.’ Vgl. hierzu Karl S. Guthke, ‘Die Geburt des Nathan aus dem Geist der Reimarus-Fragmente’, LYb, 36 (2004/05), 13–49.

8 Christian Dawidowski, ‘Osnabrücker Thesen zur Lage literarischer Bildung’, in Bildung durch Dichtung – Literarische Bildung: Bildungsdiskurse literaturvermittelnder Institutionen um 1900 und um 2000, hrsg. von Christian Dawidowski (Frankfurt/Main: Lang, 2013), S. 21–22 (S. 21).

9 Diese Trias wurde zuletzt konsolidiert durch die viel gelesene Einführung von Karl S. Guthke, Das deutsche bürgerliche Trauerspiel, 6., vollst. überarb. und erw. Aufl. (Stuttgart: Metzler, 2006).

10 Friederike Sophie Hensel, Die Entführung, oder: die zärtliche Mutter: Ein Drama in fünf Aufzügen [1772], mit einem Nachwort hrsg. von Anne Fleig (Hannover: Wehrhahn, 2004).

11 Christiane Karoline Schlegel, Düval und Charmille: Ein bürgerliches Trauerspiel in fünf Aufzügen [1778], mit dem Ermittlungsbericht des Dresdner Kriminalfalls von 1777 und einem Nachwort hrsg. von Gaby Pailer (Hannover: Wehrhahn, 2010).

12 August Wilhelm Iffland, Verbrechen aus Ehrsucht: Ein ernsthaftes Familiengemälde in fünf Aufzügen [1787], mit einem Nachwort hrsg. v. Alexander Košenina (Hannover: Wehrhahn, 2014).

13 Einen guten Einstieg in diese vom Kanon ausgeblendete Gattung bietet Das Unterhaltungsstück um 1800. Literaturhistorische Konfigurationen – Signaturen der Moderne: Zur Geschichte des Theaters als Reflexionsmedium von Gesellschaft, Politik und Ästhetik, hrsg. von Johannes Birgfeld und Claude D. Conter (Hannover: Wehrhahn, 2007).

14 Mit Blick auf das Drama hat die Forschung hierauf bereits seit den späten 1980er Jahren verstärkt hingewiesen. Vgl. in einer Fülle von einschlägigen Studien z. B. Dagmar von Hoff, Dramen des Weiblichen: Deutsche Dramatikerinnen um 1800 (Opladen: Westdeutscher Verlag, 1989); Susanne Kord, Ein Blick hinter die Kulissen: Deutschsprachige Dramatikerinnen im 18. und 19. Jahrhundert (Stuttgart: Metzler, 1992); Gaby Pailer, ‘Gattungskanon, Gegenkanon und “weiblicher” Subkanon: Zum bürgerlichen Trauerspiel des 18. Jahrhunderts’, in Kanon – Macht – Kultur: Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildungen, hrsg. von Renate von Heydebrand (Stuttgart: Metzler, 1998), S. 365–82; Anne Fleig, Handlungs-Spiel-Räume: Dramen von Autorinnen im Theater des ausgehenden 18. Jahrhunderts (Würzburg: Königshausen & Neumann, 1999).

15 Vgl. Carl Anton Gruber von Grubenfels, Die Negersklaven: Ein Schauspiel in drei Aufzügen [1779], mit einem Nachwort hrsg. von André Georgi (Hannover: Wehrhahn, 2019); Carl Philipp von Reitzenstein, Die Negersclaven: Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen [1793], mit einem Nachwort von Nikola Keller hrsg. von André Georgi, (Hannover: Wehrhahn, 2020); August von Kotzebue, Die Negersklaven: Ein historisch-dramatisches Gemählde in drey Akten [1796], mit einem Nachwort von Sigrid G. Köhler hrsg. von André Georgi (Hannover: Wehrhahn, 2019).

16 Georg Schatz, ‘Rezension von Kotzebues Die Indianer in England’, Allgemeine deutsche Bibliothek, 103 (1791), 438–40 (S. 439). Vgl. August von Kotzebue, Die Indianer in England: Lustspiel in drey Aufzügen. Mit zwölf Kupferstichen von Daniel Chodowiecki, mit einem Nachwort hrsg. von Alexander Košenina (Hannover: Wehrhahn, 2015), wo man auch Schatz’ Rezension im Anhang, S. 111–12, findet.

17 Franz Heufeld, Julie, oder Wettstreit der Pflicht und Liebe. Ein rührendes Lustspiel von drey Aufzügen [1766], mit einem Nachwort hrsg. von Maurizio Pirro (Hannover: Wehrhahn, 2013).

18 Hensel, v. 10, S. 70–71.

19 Björn Hayer, ‘Die Einsamkeit der Tugend: Solipsismus und Kommunikationsversagen in Michael Thalheimers Inszenierung von Lessings Emilia Galotti. Analyse und Chancen für den Unterricht’, LYb, 43 (2016), 183–97 (S. 194).

20 Im Kontext des schulischen Deutschunterrichts wird dies hervorgehoben von Hajo Kurzenberger, ‘Aufführungsanalyse im Deutschunterricht: Ein Vergleich der “Emilia Galotti”-Inszenierungen von Thomas Langhoff (1984) und Michael Thalheimer (2000)’, Der Deutschunterricht, 55.2 (2004), 5–18. Ausführlich untersucht werden die Funktionen des Theaters für den Deutschunterricht von Gabriela Paule, Kultur des Zuschauens: Theaterdidaktik zwischen Textlektüre und Aufführungsrezeption (München: kopaed, 2009).

21 Steffen Martus, Aufklärung: Das deutsche 18. Jahrhundert – ein Epochenbild (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2018), S. 882.

22 H. B. Nisbet, Lessing: His Life, Works and Thought (Oxford: Oxford University Press, 2013), S. 1.

23 Hugh Barr Nisbet, Lessing: Eine Biographie, übers. v. Karl S. Guthke (München: Beck, 2008), S. 865–72.

24 Ritchie Robertson, The Enlightenment: The Pursuit of Happiness 1680–1790 (London: Lane, 2020), S. xv.

25 Felix Lenz und Christine Schramm, ‘Von der Idee zum Medium: Essay zur Einführung’, in Von der Idee zum Medium; Resonanzfelder zwischen Aufklärung und Gegenwart, hrsg. von Felix Lenz und Christine Schramm (Paderborn: Fink, 2019), S. 3–20 (S. 9). Die konstatierte Aktualität soll kurz an drei Beispielen illustriert werden: Astrid Zenkert, ‘Der Raum ist die Geschichte: Virtual Reality und der Garten der Empfindsamkeit’, S. 51–88, untersucht Analogien von Rezeptionsweisen des Gartens im achtzehnten Jahrhundert und des Cyberspace in der Gegenwart; Jonas Maatsch, ‘Hypertext um 1800: Zur Geschichte netzförmiger Wissensordnungen’, S. 89–108, untersucht den ‘Übergang von der begrifflich-hierarchischen zur netzförmigen Wissensordnung’ (S. 117); und Sandra Hertel, ‘Vernunft und Gefühl: Facetten der Herrscherinszenierung Maria Theresias zwischen Aufklärung und Gegenwart’, S. 151–72, stellt Gemeinsamkeiten zwischen den medialen Inszenierungen von Maria Theresia, Lady Diana und Hillary Clinton dar.

26 Schon bevor diese Frage in den deutschen Feuilletons diskutiert wurde, war das Problem dargestellt worden von Pauline Kleingeld, ‘Kant’s Second Thoughts on Race’, The Philosophical Quaterly, 57 (2007), S. 573–92.

27 Martin R. Dean, ‘Ade, Du weiße Selbstverständlichkeit’, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3. August 2021, S. 9. Der Artikel von Matthias Politycki, auf den Dean hier reagiert, erschien unter dem Titel ‘Mein Abschied von Deutschland’ in der Ausgabe vom 17. Juli 2021, S. 11.

28 Robertson, S. xvi.

29 Peter-André Alt, Tragödie der Aufklärung: Eine Einführung (Tübingen: Francke, 1994), S. 87.

30 Aristoteles, Poetik, Griechisch/Deutsch, übers. u. hrsg. von Manfred Fuhrmann (Stuttgart: Reclam, 1994), 1449b.

31 Gottsched, S. 606.

32 Johann Wilhelm Rose, Pocahontas: Schauspiel mit Gesang, in fünf Akten, mit einem Nachwort hrsg. von Stephan Kraft unter Mitarbeit v. Christoph Schmitz und Arne Willée (Hannover: Wehrhahn, 2007).

33 Wolfgang Amadeus Mozart und Johann Gottlieb Stephanie, Die Entführung aus dem Serail: Singspiel in drei Aufzügen (1782), hrsg. von Henning Mehnert (Stuttgart: Reclam, 1954).

34 Der Aufsatz, der unter diesem Titel im 4. Teil der Kleineren prosaischen Schriften (Leipzig 1802), erschien, ist eine gekürzte Fassung des Vortrags, den Schiller unter dem Titel ‘Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?’ am 26. Juni 1784 vor der kurfürstlichen deutschen Gesellschaft in Mannheim hielt. Vgl. Friedrich Schiller, Sämtliche Werke, hrsg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, 5 Bde. (6. Auflage, München: Hanser, 1980), v: Erzählungen, Theoretische Schriften, S. 818–31.

35 Dawidowski, S. 21.

36 (K)ein Kanon: 30 Schulklassiker neu gelesen, hrsg. von Klaus-Michael Bogdal und Clemens Kammler (München: Oldenbourg, 2000), enthält Beiträge zu Emilia Galotti (Hans Peter Herrmann, S. 11–16), Nathan der Weise (Gerhard Bauer, S. 24–29), Die Räuber (Barbara Schubert-Felmy, S. 30–35), Kabale und Liebe (Walter Hinderer, S. 36–43), Faust I und II (Harro Müller-Michaels, S. 49–57). Zahlreiche auch jüngere Beiträge zu diesen Dramen in Praxis Deutsch: Zeitschrift für den Deutschunterricht, die hier nicht einzeln aufgeführt werden können, demonstrieren die anhaltende Auseinandersetzung mit diesem Teil des Kanons im Rahmen des Schulcurriculums.

37 Die historische Kontinuität dieses Kanons demonstriert Manuel Mackasare, Klassik und Didaktik 1871–1914: Zur Konstituierung eines literarischen Kanons im Kontext des deutschen Unterrichts (Berlin: De Gruyter, 2017), hier vor allem zu den ‘Klassikern’, S. 112–61. Den Stellenwert Lessings im Schulunterricht des 19. und frühen 20. Jahrhunderts beleuchten die Beiträge in Gotthold Ephraim Lessing im Kulturraum Schule: Aspekte der Wirkungsgeschichte im 19. Jahrhundert, hrsg. von Carsten Gansel, Norman Ächtler und Birka Siwczyk (Göttingen: V&R unipress, 2017).

38 Vgl. hierzu Tobias Heinrich, ‘Wie viel Goethe verträgt DaF/DaZ? Überlegungen zum Umgang mit vermeintlich “schwierigen” Texten’, in In die Welt hinaus: Festschrift für Renate Faistauer zum 65. Geburtstag, hrsg. von Hannes Schweiger und anderen (Wien: Praesens, 2016), S. 271–84; Heinrich setzt sich in erster Linie mit Möglichkeiten auseinander, Die Leiden des jungen Werthers in den DaF-/DaZ-Unterricht einzubeziehen.

Additional information

Notes on contributors

Thomas Martinec

Thomas Martinec did his PhD at the University of Mainz. Following a Fellowship in German at Lincoln College, University of Oxford, a Lectureship at the University of Regensburg, and a Lectureship at Durham University, he became Privatdozent at the University of Regensburg. His research focuses on poetics and tragedy in the long eighteenth century and on music in poetics around 1900. Thomas is the author of Lessings Theorie der Tragödienwirkung. Humanistische Tradition und aufklärerische Erkenntniskritik (Niemeyer, 2003), and has just finished a monograph on Unsagbarkeit und Musik in der Poetik um 1900 (forthcoming). He co-edited the volume Familie und Identität in der deutschen Literatur (Lang, 2009), edited the volume Rilkes Musikalität (V&R unipress, 2019), and is assistant and book review editor of the Lessing Yearbook.

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