219
Views
0
CrossRef citations to date
0
Altmetric
Articles

Von Grenzen und Grenzgängern in der deutschsprachigen Südtiroler Literatur

Pages 54-70 | Published online: 17 Jun 2019
 

Abstract

Grenzen sind Trennungslinien und Übergänge zugleich, sie können limitieren oder den Zugang zu Neuem bieten. Grenzen sind auch identitätsstiftend und können sich begrenzend oder bereichernd auf die Subjektkonstitution auswirken. Mittels Erkenntnissen aus der Subjekttheorie untersucht diese Arbeit anhand der Werke von Oswald Egger (Val di Non), Helene Flöss (Schnittbögen), Sabine Gruber (Stillbach oder Die Sehnsucht), Sepp Mall (Wundränder), Anita Pichler (Beider Augen Blick) und Joseph Zoderer (Der Schmerz der Gewöhnung; Die Farben der Grausamkeit), wie sich die deutschsprachige Literatur aus und über Südtirol mit dem ambivalenten Begriff Grenze als räumlich-territoriales, sprachliches, historisches, ästhetisches Gebilde mit all seinen Schattierungen, Zwischenorten, und Rändern auseinandersetzt. Ein Themenschwerpunkt behandelt die Fragen, wie die hier untersuchten zeitgenössischen Prosatexte die soziokulturellen Südtiroler Realitäten des Zusammenlebens der italienischen und der deutschsprachigen Kultur reflektieren, wo und wie sich für das dynamisch-dialogische Subjekt Grenzen wahrnehmen lassen und als personale und kollektive Erfahrungs- und Handlungsspielräume erschließen oder verschließen.

Notes on Contributor

Siegrun Wildner ist Professorin an der University of Northern Iowa, USA; Lehrtätigigkeit und Forschung im Bereich Holocaust and Genocide Studies, Intercultural Studies und 20th Century European Literature. Zahlreiche Publikationen, u.a. über Trends und Entwicklungen in der Südtiroler Literatur, wie (W)orte. Words in Place. Zeitgenössische Literatur aus und über Südtirol. Contemporary Literature by German-Speaking Minority Writers from South Tyrol, Italy (Innsbruck/Bozen/Wien: Studienverlag/Skarabaeus, 2005). ‘Hybrid Testimony and Moral Indictment: A Survivor’s Poetic Response to the Mauthausen Nazi Concentration Camp Experience’, Holocaust and Genocide Studies 29: 3 (2015), S. 460–77.

Notes

1 In dieser Arbeit wird einfachhalber die landläufige Bezeichnung ‘Südtirol’ anstatt der amtlichen dreisprachigen Version ‘Autonome Provinz Bozen-Südtirol / Provincia Autonoma di Bolzano — Alto Adige / Provinzia Autonoma de Bulsan — Südtirol’ verwendet.

2 Gemäß der letzten Sprachgruppenzählung in Südtirol, die im Rahmen der Volkszählung von 2011 durchgeführt wurde, erklärten sich 69,61% der Bevölkerung der deutschen Sprachgruppe zugehörig, 26,06% der italienischen, und 4,53% der ladinischen. Insgesamt wurden 445.647 Stimmen abgegeben. Südtirol in Zahlen 2011, hg. von Autonome Provinz Bozen-Südtirol Bozen (Bozen: Landesinstitut für Statistik Bozen, 2011), S. 15.

3 Zur Problematik einer begrifflichen Bestimmung von ‘Südtiroler Literatur’ siehe Siegrun Wildner, ‘Einleitung', in (W)orte. Zeitgenössische Literatur aus und über Südtirol, hg. von Siegrun Wildner (Innsbruck: Skarabæus, 2005), S. 2–67.

4 Werke wie Die Aushäusige (1996) von Sabine Gruber sowie Die Walsche (1982) von Joseph Zoderer sind im Hinblick auf interethnische Grenzziehungen bereits umfassend untersucht worden. Eine umfangreiche Bibliografie mit deutschsprachigen Buchveröffentlichungen Südtiroler AutorInnen von 1990 bis 2004 findet sich in Wildner (Hg.), (W)orte. Zeitgenössische Literatur aus und über Südtirol.

5 Kurbacher weist ebenfalls auf die Schwierigkeit der begrifflichen Definition hin: ‘Grenzen markieren die Linie, den Punkt, die Stelle, wo eines aufhört und ein anderes beginnt. Insofern bilden sie einen Rand, eine Schnittstelle oder einen Übergang, einen Anschluss, eine Umgrenzung, einen Abschluss oder eine Öffnung. Das Weichbild der Grenze scheint weit.’ Frauke A. Kurbacher, ‘Die Grenze der Grenze. Strukturreflexionen zum Verhältnis von Denktraditionen und Performativität in menschlichen Haltungen', in Topographien der Grenze. Verortungen einer kulturellen, politischen und ästhetischen Kategorie, hg. von Christoph Kleinschmidt und Christine Hewel (Würzburg: Königshausen & Neumann, 2011), S. 25–38 (S. 26).

6 Norbert Wokart, ‘Differenzierungen im Begriff “Grenze”. Zur Vielfalt eines scheinbar einfachen Begriffs', in Literatur der Grenze — Theorie der Grenze, hg. von Richard Faber und Barbara Naumann (Würzburg: Königshausen & Neumann, 1995), S. 275–89 (S. 278). Diese Arbeit orientiert sich an Wokarts Anhaltspunkten für eine begriffliche Definition von ‘Grenze’.

7 Kurbacher, ‘Die Grenze der Grenze', S. 27. Siehe auch Wokart, ‘Differenzierungen im Begriff “Grenze”’, S. 284.

8 Wokart, ‘Differenzierungen im Begriff “Grenze”', S. 284.

9 Beispielsweise ‘[d]ie Grenze ist konstitutiv für die Bestimmung menschlicher Identität.’ Wokart, ‘Differenzierungen im Begriff “Grenze”', S. 279.

10 Peter V. Zima, Theorie des Subjekts (Tübingen: Francke, 2000), S. 368.

11 Gerhard Mumelter, ‘Tiefes Südtiroler Unbehagen', Der Standard, 25. März 2017, <https://derstandard.at/2000054779267/Tiefes-Suedtiroler-Unbehagen> [letzter Zugriff 29. Oktober 2018].

12 Andrea Spalinger, ‘Gemeinsam einsam', Neue Zürcher Zeitung, 15. Juni 2016, <https://www.nzz.ch/international/europa/gespaltenes-suedtirol-gemeinsam-einsam-ld.88966> [letzter Zugriff 29. Oktober 2018].

13 Barbara Bachmann, ‘Daheim bei Fremden', Zeit Online, 30. März 2015, <https://www.zeit.de/2015/13/italiener-minderheit-deutschsprachiges-suedtirol> [letzter Zugriff 29. Oktober 2018].

14 Bachmann, ‘Daheim bei Fremden'.

15 Hans Karl Peterlini, Wir Kinder der Südtirol-Autonomie (Wien: Folio Verlag, 2003), S. 202.

16 Siehe Günther Pallaver, ‘Südtirols Konkordanzdemokratie: Ethnische Konfliktregelung zwischen juristischem Korsett und gesellschaftlichem Wandel', in 1992: Ende eines Streits, hg. von Sieglinde Clementi und Jens Woelk (Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft, 2003), S. 177–203.

17 Ralf Steiniger, Südtirol im 20. Jahrhundert. Vom Leben und Überleben einer Minderheit (Innsbruck: Studienverlag, 1997), S. 102.

18 Siegrun Wildner, ‘Ethnizität und Identität in deutschsprachiger Literatur aus und über Südtirol’, TRANS. Zeitschrift für Kulturwissenschaften / Internet Journal for Cultural Studies 15 (2004) <http://www.inst.at/trans/15Nr/05_08/wildner15.htm> [letzter Zugriff 29. Oktober 2018].

19 Joseph Zoderer zitiert in Wildner, (W)orte, S. 53.

20 Joseph Zoderer, Der Schmerz der Gewöhnung (München: Hanser, 2002), S. 76.

21 Zoderer, Der Schmerz der Gewöhnung, S. 170.

22 Zoderer, Der Schmerz der Gewöhnung, S. 173.

23 Zoderer, Der Schmerz der Gewöhnung, S. 165.

24 Zoderer, Der Schmerz der Gewöhnung, S. 187.

25 Zoderer, Der Schmerz der Gewöhnung, S. 165.

26 Zoderer, Der Schmerz der Gewöhnung, S. 75.

27 Zoderer, Der Schmerz der Gewöhnung, S. 186.

28 Homi K. Bhabha, The Location of Culture (London: Routledge, 1994).

29 Joseph Zoderer, Die Farben der Grausamkeit (Innsbruck: Haymon Verlag, 2011), S. 29.

30 Zoderer, Die Farben der Grausamkeit, S. 114.

31 Zoderer, Die Farben der Grausamkeit, S. 231.

32 Zoderer, Die Farben der Grausamkeit, S. 250.

33 Zoderer, Die Farben der Grausamkeit, S. 297.

34 Zoderer, Die Farben der Grausamkeit, S. 333.

35 Neben Formen der Selbsterforschung und Selbsterkenntnis sieht Assmann auch die Selbstinszenierung als Teil individueller Identitätsarbeit. Aleida Assmann, Einführung in die Kulturwissenschaft (Berlin: Erich Schmidt Verlag, 2006), S. 205.

36 ‘Erinnerung setzt immer die Annahme von Identität voraus: derjenige oder diejenigen, welche sich erinnern, finden die Verbindung zwischen Gegenwart und Vergangenheit über die Kontinuität der eigenen Person oder der eigenen Gruppe.’ Bernd Giesen, Kollektive Identität (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1999), S. 43.

37 Jürgen Straub, ‘Personale und kollektive Identitäten. Zur Analyse eines theoretischen Begriffs’, in Identitäten, hg. von Aleida Assmann und Heidrun Friese (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1999), S. 73–104 (S. 93).

38 Als wahrscheinliche, aber nicht verlässliche Zahl der Optanten wird vielfach 86% angegeben. Die ‘Dableiber’ wurden von den Optanten auch als ‘Walsche’ und ‘Verräter’ beschimpft und oft schikaniert. Die Organisation und Durchführung der Umsiedelung übernahmen die ‘Amtliche deutsche Ein- und Rückwandererstelle’ (ANDERST) sowie die aus dem VKS entstandene ADO. Durch die Kriegswirren kam es für viele Optanten nicht zur Umsiedlung (siehe Steininger, S. 171). Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Optanten von der italienischen Regierung als Ausländer angesehen. Die Verhandlungen zwischen Italien, Österreich und Südtirol resultierten 1948 im sogenannten Optantendekret, das den Optanten die Möglichkeit gewährte, sich in einer Zeitspanne von zwei Jahren um die italienische Staatsbürgerschaft zu bewerben (siehe Steininger, S. 451).

39 Helene Flöss, Schnittbögen (Innsbruck: Haymon Verlag, 2000), S. 10.

40 Flöss, Schnittbögen, S. 15.

41 Flöss, Schnittbögen, S. 9.

42 Flöss, Schnittbögen, S. 19.

43 Steininger, S. 490. Siehe auch Christoph Franceschini, ‘Die Welle der Sprengstoffanschläge in Südtirol', in Handbuch zur Neueren Geschichte Tirols, hg. von Anton Pelinka und Andreas Maislinger, Bd. 2 (Innsbruck: Wagner, 1993), S. 467–507 (S. 468ff.).

44 Sepp Mall, Wundränder (Innsbruck: Haymon Verlag, 2004), S. 53.

45 Mall, Wundränder, S. 130.

46 Sabine Gruber, Stillbach oder Die Sehnsucht (München: Deutscher Taschenbuchverlag, 2014. Originalausgabe: München: Beck, 2011), S. 362.

47 Straub, ‘Personale und kollektive Identitäten', S. 87.

48 Endel Tulving zitiert in Birgit Neumann ‘Literatur, Erinnerung, Identität’, in Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven, hg. von Astrid Erll und Ansgar Nünning (Berlin: De Gruyter, 2005), S. 149–78 (S. 153).

49 Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik (München: Beck, 2006), S. 24–25.

50 Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 17.

51 Gruber, Stillbach oder Die Sehnsucht, S. 307.

52 Giesen, Kollektive Identität, S. 43.

53 Gruber, Stillbach oder Die Sehnsucht, S. 289.

54 Gruber, Stillbach oder Die Sehnsucht, S. 304.

55 Anita Pichler, Beider Augen Blick. Neun Variationen über das Sehen (Innsbruck: Haymon-Verlag, 1995), S. 59.

56 Anita Pichler, Beider Augen Blick. Neun Variationen über das Sehen (Innsbruck: Haymon Verlag, 1995), S. 10.

57 Siegrun Wildner, ‘“Streifzüge durch die Sinne”: Ästhetisches Denken und Wahrnehmung in Anita Pichlers Prosaskizzen Beider Augen Blick', in Das Herz, das ich meine. Essays zu Anita Pichler, hg. von Sabine Gruber und Renate Mumelter (Wien: Folio Verlag, 2002), S. 102–14 (S. 111).

58 Pichler, Beider Augen Blick, S. 58.

59 Pichler, Beider Augen Blick, S. 59.

60 Pichler, Beider Augen Blick, S. 56.

61 Pichler, Beider Augen Blick, S. 59.

62 Siehe Siegrun Wildner, ‘Das Fremde als Grenzgänger — Gedanken zu Anita Pichlers Textvignette Der Tod', 39NULL, 23. Februar 2014, <https://39null.com/blog/siegrun-wildner-der-staendige-begleiter> [letzter Zugriff 29. Oktober 2018].

63 Vgl. auch Eggers poetologische Aussagen in seiner Berliner Rede. Auch dort werden Grenzen in Frage gestellt: ‘Ich starre Raster in den Tag, die Grenzen der Grenzen verwischen und ereignen einander als in sich kreisende Welten in der Welt, rede ich mir ein, die bis zum Dort hinaus, ja, aber auch über das Dort hinaus?’ Oswald Egger, Was nicht gesagt ist. Berliner Rede zur Poesie (Göttingen: Wallstein, 2016), S. 7.

64 Oswald Egger, Val di Non (Berlin: Suhrkamp, 2017), S. 62.

65 Egger, Val di Non, S. 207.

66 Egger, Val di Non, S. 207.

67 Egger, Val di Non, S. 207.

68 Egger, Berliner Rede zur Poesie, S. 19.

Log in via your institution

Log in to Taylor & Francis Online

PDF download + Online access

  • 48 hours access to article PDF & online version
  • Article PDF can be downloaded
  • Article PDF can be printed
USD 53.00 Add to cart

Issue Purchase

  • 30 days online access to complete issue
  • Article PDFs can be downloaded
  • Article PDFs can be printed
USD 198.00 Add to cart

* Local tax will be added as applicable

Related Research

People also read lists articles that other readers of this article have read.

Recommended articles lists articles that we recommend and is powered by our AI driven recommendation engine.

Cited by lists all citing articles based on Crossref citations.
Articles with the Crossref icon will open in a new tab.