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Book Review

Jacob Böhme. Ein gründlicher Bericht von dem irdischen Mysterio und dann von dem himmlischen Mysterio (1620). Hrsg. von Günther Bonheim. Unter Mitarbeit von Michael Spang (Jacob Böhme. Historisch-kritische Gesamtausgabe, Abteilung I: Schriften, Band 5). Stuttgart-Bad Cannstatt: frommann-holzboog, 2020. ISBN 978-3-7728-5005-9. LXX + 90 S

Der philosophische und theologische Denker Jacob Böhme (1575–1624) fand nicht nur in seinem eigenen Jahrhundert enthusiastische Anhänger, sondern übt eine dauernde Faszination auf die Nachwelt aus. Romantische Dichter und Philosophen wie Novalis, Tieck, Schelling und Franz von Baader waren von Böhme tief beeindruckt. Hegel und Marx schätzten ihn als Dialektiker. Er war eine wichtige Gestalt für die theosophische Bewegung um 1900, kurz danach auch für Vertreter der abstrakten Kunst. Im Dritten Reich wurde Böhme zur Portalfigur germanischen Philosophierens, in der DDR zum Pionier dialektischen Denkens. Forschung, die Böhmes Kosmologie mit moderner Quantenphysik verbindet, liegt auch vor. Regelmäßig werden wissenschaftliche Symposien über unterschiedliche Aspekte seines Denkens und Wirkens veranstaltet; jedes Jahr erscheinen Bücher und Artikel – wissenschaftliche und populäre, die den philosophus teutonicus behandeln. Eine Wanderausstellung, die Böhme und seine Zeit präsentiert, wurde 2017–2019 in Dresden, Coventry, Gotha und Amsterdam gezeigt. Seine Spiritualität interessiert viele heutige Menschen. In den letzten Jahren wurden sogar mehrere belletristische Werke zum Thema Jacob Böhme publiziert, u.a. ein Kriminalroman. Der erste deutsche Philosoph, wie Hegel ihn nannte, ist ständig aktuell.

Vor diesem Hintergrund mutet es recht erstaunlich an, dass keine moderne Gesamtausgabe von Böhmes Schriften vorliegt. In den Jahren 1963–1966 sind die Werke, die als Autographe vorhanden sind, in einer von Werner Buddecke besorgten zweibändigen Edition unter dem Titel Die Urschriften erschienen. Zu ihnen gehören u.a. die Morgen Röte (1612) und Von der Gnaden wahl (1623). Für die Mehrzahl der Schriften ist die Forschung aber immer noch auf die bisher letzte Gesamtausgabe angewiesen, die im Jahr 1730 gedruckt wurde. Sie liegt zwar als Faksimile vor; doch kann sie modernen philologischen Ansprüchen nicht genügen. Dass die Werke eines philosophischen Autors von solcher Dignität nicht in einer modernen wissenschaftlichen Edition zugänglich sind, ist eine auffallende Erscheinung.

Eine neue vollständige Ausgabe von Böhmes Werken ist also ein wichtiges Desiderat. Seit Jahren engagiert sich der Böhme-Forscher Günther Bonheim dafür intensiv. Jetzt ist der erste der auf 30 Bände angelegten historisch-kritischen Gesamtausgabe publiziert worden. Es handelt sich um die Edition einer wenig umfangreichen, aber inhaltlich sehr interessanten Schrift Böhmes, deren Titel lautet: Ein gründlicher Bericht von dem irdischen Mysterio und dann von dem himmlischen Mysterio (1620). Sie enthält eine stark komprimierte Darstellung von zentralen Gedanken seiner Philosophie; besonders wichtig ist die Diskussion des Begriffs Ungrund. Dieser Begriff bezieht sich auf den absoluten Anfang des Seins, woraus Natur und Geist entstehen und sich in aller Wirklichkeit dialektisch entfalten.Footnote1 Es ist eine gute Entscheidung, dieses Werk als erste Publikation der Gesamtausgabe zu wählen.

Die Ausgabe von Einem gründlichen Bericht enthält nicht nur die Teile, die zu einer wissenschaftlichen Edition gehören, sondern auch ein wichtiges allgemeines Vorwort, in dem die Grundsätze der neuen Böhme-Ausgabe dargelegt werden.

Die Gesamtausgabe wird alle bekannten Werke Böhmes enthalten. Dies bedeutet, dass einige Bände eine Neuedition der von Werner Buddecke schon herausgegebenen Autographe enthalten werden. Als Herausgeber hat sich Buddecke dafür entschieden, die Texte zeichengetreu wiederzugeben. In der neuen Gesamtausgabe wird dagegen nach zwei Editionsprinzipien verfahren werden. Die genaue Orientierung an Orthographie und Interpunktion gilt – wie bei Buddecke – für Böhmes Originale, während für die Texte, die nur in frühen Abschriften zugänglich sind, auf die zeichengetreue Wiedergabe der Leithandschrift verzichtet wird. Stattdessen wird hier „eine moderne Rechtschreibung“ gewählt (lxiii–lxiv). Nach Bonheim erlauben diese nicht originären Quellen keine Authentizität; sie spiegeln Böhmes eigene Textgestaltung nicht unmittelbar wider. Daher wird in diesen Fällen der Text in einer äußeren Gestalt dargeboten, „die zum einen nicht durch eine besondere Eigentümlichkeit auf sich selbst aufmerksam macht und zum andern die unüberbrückbare Distanz zum Original nicht aus dem Blick geraten lässt“ (lxiv). Doch liegen Ausnahmen im Hinblick auf die moderne Rechtschreibung vor, die u.a. orthographische Besonderheiten betreffen, die „seinerzeit auch akustisch wahrnehmbar waren, also etwa ‚Leschen‘ für ‚Löschen’“ (ebd.). Auch die Interpunktion ist nur zum Teil die der Leithandschrift. Die Gesamtausgabe folgt also zwei Editionsprinzipien: ‚Originaltreue‘ bzw. ‚moderner Rechtschreibung‘, was widerspruchsvoll erscheint. Diese editorische Entscheidung führt beispielsweise dazu, dass nur die Bände, die sich auf Böhmes Originale gründen, für sprachwissenschaftliche Analysen geeignet sein werden. Für die übrigen Texte muss der/die Forscher*in selbst zu den Handschriften greifen; ein großer Vorteil der vorliegenden Edition ist allerdings, dass die benutzten Textträger online verfügbar sind. Man kann sich allerdings fragen, ob es ein angemessenes Ziel einer historisch-kritischen Ausgabe sein sollte, eine Gruppe von Texten aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts so darzubieten, dass diese für moderne Leser*innen keine „besondere Eigentümlichkeit“ aufweisen. Wäre es hier nicht angebracht gewesen – wie bei Böhmes Autographen – dem historischen Stand von Orthographie und Interpunktion einer geeigneten frühen Handschrift zu folgen, auch wenn es sich um kein Original des Autors handelt?

Als Leithandschrift des vorliegenden Bandes dient eine Abschrift des Gründlichen Berichts durch den Böhme-Anhänger Michael Ender von Sercha aus der Zeit kurz nach 1620. Die Entscheidung, die Handschrift nicht zeichengetreu wiederzugeben, ist nicht nur von prinzipiellem Interesse; sie hat, wie sich zeigt, auch gewisse, wohl unbeabsichtigte Auswirkungen auf die Brauchbarkeit des kritischen Apparats. Eine Stelle im Gründlichen Bericht kann dies illustrieren. Im langen Titel der Schrift gibt Böhme am Ende den Ursprung des dargebotenen Wissens an. Er schreibt (nach dem edierten Text): „Alles ganz ernstlich und treulich gegeben aus Erkanntnis des großen Mysterii“ (3, Z. 12). Hier interessiert das Wort „Erkanntnis“. In der Leithandschrift steht „erkandttniß“. (Der Vokal <a> in „Erkanntnis“ gehört also nach der Einschätzung des Herausgebers zu den akustisch wahrnehmbaren orthographischen Besonderheiten, die im normalisierten Text der Edition erscheinen.) In den drei weiteren für die Ausgabe benutzten Handschriften heißt es, wie dem Apparat zu entnehmen ist: „erkentnis“, „erkendtniß“ bzw. „erkändtnüß“. Weil die Edition nur einen normalisierten Text darbietet, liegt für den/die Benutzer*in der Ausgabe keine Möglichkeit vor, den exakten Wortlaut der Leithandschrift mit dem der anderen Textträger zu vergleichen, was eine zentrale Aufgabe des Apparats wäre; dafür ist er/sie stattdessen auf das online zugängliche Faksimile angewiesen. Um solche Recherchen zu erleichtern, wären Seitenverweise auf die Leithandschrift – wie dies in Editionen normalerweise der Fall ist – wünschenswert gewesen.

Nach diesen (kritischen) Bemerkungen eines sprachwissenschaftlichen Böhme-Forschers müssen schließlich noch die großen Verdienste der neuen Gesamtausgabe hervorgehoben werden. Das groß angelegte und arbeitsintensive Editionsprojekt ist nicht nur für die Böhme-Forschung wertvoll, sondern auch für eine Reihe von Disziplinen, die die Kultur des 17. Jahrhunderts erforschen. Im vorliegenden Band gelingt es dem Herausgeber innerhalb eines begrenzten Rahmens, sehr gut über die Geschichte der Böhme-Handschriften und der früheren Böhme-Editionen zu informieren. Die Darlegung der editorischen Grundsätze ist transparent und die Argumentation für die getroffenen Entscheidungen leicht nachvollziehbar (auch wenn es möglich wäre, zu anderen Ergebnissen zu kommen). Die Ausgabe enthält eine kurze inhaltliche Präsentation des Gründlichen Berichts, eine Beschreibung von neun frühen Handschriften, einen Vergleich mit dem Text der Ausgabe von 1730 und einen ausführlichen, informativen Stellenkommentar, in dem es vor allem um zentrale philosophische Begriffe bei Böhme geht.

Es bleibt nur zu wünschen, dass weitere Bände der Böhme-Gesamtausgabe bald folgen werden.

Notes

1 Günter Bonheim hat vor kurzem eine Monographie zum Thema des Ungrundes publiziert: Das Problem des absoluten Anfangs. Jacob Böhmes Lehre vom Ungrund und Paul Celans Ungrund-Gedicht (Mystik in Geschichte und Gegenwart. Texte und Untersuchungen, Abteilung I: Christliche Mystik, Band 21). Stuttgart-Bad Cannstatt: frommann-holzboog, 2021.