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Die fragile Demokratisierung in Ostmitteleuropa in der Zwischenkriegszeit [The fragile democratization in East Central Europe in the interwar period]

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ABSTRACT

At the end of the First World War a number of new national states emerged from the three disintegrating empires of tsarist Russia, Germany and Austria-Hungary. At the outset nearly all of these states in East Central Europe were liberal democracies based on the 1875 constitutional laws of the French Third Republic (1870–1940). Shortly afterwards, however, these liberal democracies were transformed into various forms of political dictatorship, the only exception being Czechoslovakia. This article focuses on the different reasons for this failure of democracy, based on a comparison between the failing democracies and the only stable democracy in the region. It draws conclusions for the decay of political democracies based on problematic issues such as the high degree of government instability, ethnic tensions, and political violence. The following factors are emphasized in this article: the influence of the geopolitical interests of the war victors; the subtle changes in the zeitgeist of the interwar period; the effects of different stages and tensions in the process of political modernization in the respective countries; and the impact of moral concepts of the leading politicians on political change.

Nach dem Ersten Weltkrieg erschien vielen die parlamentarische Demokratie der Ententemächte Frankreich und England als politische Ordnung der Zukunft. Die in Ostmitteleuropa aus dem Zerfall der Imperien entstandenen neuen Nationalstaaten orientierten sich ebenfalls daran. Allerdings die meisten nur für kurze Zeit. Wenn Ostmitteleuropa der Raum zwischen Russland, Deutschland und Österreich ist, also Polen, die baltischen Staaten, die Tschechoslowakei und Ungarn umfasst, dann war bis auf eine Ausnahme die Phase der erfolgreichen Demokratisierung bald vorbei.

Diese historische Erfahrung ist auch für die aktuelle Entwicklung von Bedeutung. Im nachfolgenden Beitrag soll nach den Ursachen der fragilen Demokratisierung in diesem Raum gefragt werden. Als Politikwissenschaftler orientiere ich mich dabei an theoretischen Konzeptionen, die als Interpretationsfolien über die Ereignisse und Prozesse gelegt werden sollen. Der Vergleich zwischen den Ländern soll dabei einer Prüfung der möglichen Konzepte dienen.

Kurzer Überblick über die historischen Ereignisse, Konflikte und Akteure

In der nachfolgenden Abbildung wird die Entwicklung der politischen Regime von der Konstituierung demokratischer Regime, meist als parlamentarische Demokratien, über deren Krise und Gefährdung hin zum Gegensatz, einer Diktatur, ihrem Wandel in autokratische politische Regime, skizzenartig dargestellt. Die Jahre 1920, 1927 und 1938 dienen dabei als zeitliche Orientierungspunkte ().

Nur noch ein paar Bemerkungen zu den Begriffen ‘Demokratie’, ‘gefährdete Demokratie’ und ‘Diktatur’. Demokratien sind Staatsformen, in denen die Regierung durch freie, gleiche und allgemeine Wahl bestimmt wird und in denen die politischen und Bürgerrechte geschützt sind. Gefährdete Demokratien sind solche politischen Regime, in denen bestimmte Merkmale von Demokratien eingeschränkt vorhanden sind, aber die freie und gleiche Wahl der Regierung gewährleistet ist. In Diktaturen ist die politische Macht immer das Monopol einer kleinen Gruppe, andere Anwärter auf die Macht werden mit allen Mitteln – auch mittels exzessiver Gewalt – ferngehalten.Footnote1 Die letzte Definition stützt sich auf Franz Neumanns ‘Notizen zur Frage der Diktatur’).

Table 1. Politischer Wandel in Ostmitteleuropa in der Zwischenkriegszeit

Während in den letzten Jahren viele Arbeiten über den Typ der ‘Demokratie’ veröffentlicht wurden, entstanden weniger Analysen über ihr autoritäres Gegenstück, die ‘Diktatur’. Insofern will ich von Neumann noch eine Überlegung zitieren, die mir wichtig erscheint: er fragt nicht nur nach der Differenzierung des Typs von Diktatur – in traditionelle, cäsaristische, totalitäre – sondern auch nach den gesellschaftlichen Bedürfnissen, die eine Diktatur begünstigen. Bei einer Analyse der Ursachen von demokratischer Instabilität sowie des Übergangs von Demokratien in Diktaturen sollte nicht so sehr normativ dieser Wandel beklagt werden; wir sollten eher analysieren, was ihn vorantreibt und zumindest innergesellschaftlich legitimiert. Ausgangspunkt wäre das alte römische Institut der Diktatur, dem der Gedanke zugrunde liegt, dass die Zentralisierung der Macht in den Händen eines Diktators eine Notmaßnahme in Zeiten der Bedrohung des staatlichen Gemeinwesens ist. Diktaturen können die Demokratie in Notsituationen retten oder aber sie vorbereiten.Footnote2

Ausgangspunkt der Entwicklung Ostmitteleuropas in der Zwischenkriegszeit ist der Zerfall von drei alten Imperien in diesem Raum, dem Osmanischen, dem Habsburger und dem Zaristisch-Russischen. Diese Zerfallsprozesse haben teilweise lange vorher begonnen, sind aber durch den Weltkrieg zu einem relativen Abschluss gekommen. Ein zweiter Ausgangspunkt sind die nationalen Erweckungsbewegungen in diesem Raum, die spätestens Mitte des neunzehnten Jahrhunderts beginnen und in denen bestimmte ethnisch-nationale Gruppen nach eigener Staatlichkeit streben. 1918, am Ende des Krieges, entstehen diese neuen Nationalstaaten bzw. – wie im Falle Polens – wird eine alte Staatlichkeit nach langer Teilungszeit wieder hergestellt. Die Friedensverträge, die von der siegreichen Koalition diktiert werden, befestigen die faktisch entstandenen politischen Realitäten.

So wie die geopolitischen Interessen der Siegermächte, v.a. aber Frankreichs, die staatlichen Grenzziehungen in Ostmitteleuropa bestimmen, so ist auch das politische Regime der Sieger, eine parlamentarische Regierung, Vorbild der neuen Verfassungen. Das geht so weit, dass auch das Wahlrecht der Dritten Französischen Republik, ein reines proportionales Wahlrecht, überall eingeführt wird. Im betrachteten Raum entstehen ausnahmslos parlamentarische oder parlamentarisch-präsidentielle Regime, in Ungarn ist diese politische Periode allerdings nur von kurzer Dauer.

Zuerst entstand der polnische Nationalstaat neu. Schon im Krieg hatte es die ersten Schritte dazu gegeben: im Winter 1916 proklamierten der deutsche und der österreichische Kaiser aus militärtaktischen Erwägungen heraus in ihren Teilungsgebieten das Königreich Polen. Kurze Zeit später erklärten sich auch der US-amerikanische Präsident Wilson und der russische Zar für eine Wiedererrichtung des polnischen Staates. Im Frieden in Brest-Litowsk 1918 wurde die beabsichtigte Staatsgründung bekräftigt. Am 8. Oktober 1918 erklärte der Regentschaftsrat die Unabhängigkeit des polnischen Staates, dessen Führung kurze Zeit später durch Jósef Piłsudski übernommen wurde. 1921 wurde eine Verfassung verabschiedet, die Polen zur parlamentarischen Republik mit einem schwachen Präsidenten an der Spitze machte.

Die Unabhängigkeitserklärung der Tschechoslowakei folgte ebenfalls Ende Oktober 1918. Der Philosoph und Politiker Tomáš Garrigue Masaryk hatte dafür seit 1915 um die Unterstützung der Ententemächte geworben und auch die Zusammenarbeit mit slowakischen Politikern erlangt. Die Verfassung des neuen Staates lehnte sich besonders eng an die Verfassung der französischen Siegermacht an.

Im Baltikum war schon im Winter/Frühjahr 1918 aus der militärischen Niederlage Russlands und dem Sturz des Zaren sowie der nachfolgenden Machtübernahme durch die Bolschewiki die Möglichkeit einer staatlichen Eigenständigkeit entstanden. Litauens Unabhängigkeit wurde im Februar 1918 proklamiert. Lettland wurde im Winter 1918 staatlich unabhängig. Estland wurde ebenfalls in diesem Jahr unabhängig. In allen drei Staaten wurde die endgültige Souveränität und vorläufige Grenzziehung im Gefolge der weiteren militärischen Auseinandersetzungen zuerst mit deutschen, später sowjetischen bzw. polnischen Truppen bis 1921 festgelegt. Alle drei Staaten konstituierten sich als parlamentarische Republiken.

In Ungarn als dem letzten hier betrachteten Staat wurde durch Graf Mihály Károlyi am 16. November 1918 eine Republik proklamiert. Er wurde im Januar 1919 ihr Präsident. Diese Staatsform war allerdings von keiner Dauer.

Die Gefährdungen der Demokratie in der Region waren bereits in der Gründung der beobachteten Staaten mehr oder weniger deutlich. Ungarn wurde am stärksten erschüttert. Da die Nationalstaatgründungen und die beabsichtigten Grenzziehungen der Siegermächte zur Abtrennung großer Gebiete des traditionellen ungarischen Staatsgebietes zu führen drohten, befand sich die junge Republik im permanenten Verteidigungskampf. Vor allem die Abtrennung Transsylvaniens und dessen Zusammenschluss mit Rumänien wurden in der ungarischen Gesellschaft als existentiell bedrohlich empfunden. Die drohende Verkleinerung des Staates führte zunächst zum Rücktritt Károlyis und dann zur kurzlebigen ungarischen Räterepublik, die durch Rumänien und die Truppen der konservativen ungarischen Nationalarmee unter Miklós Horthy besiegt wurde. Horthy errichtete eine Militärdiktatur. Die nachfolgende Regierungsform war autoritär. Das Wahlrecht und die anderen politischen Rechte wurden eingeschränkt. Wahlen führten jedes Mal zum Sieg der Regierungspartei, die mehrfach ihren Namen wechselte.

In Polen erwuchs die Destabilisierung der Demokratie aus der inneren Zerklüftung heraus, die sich am deutlichsten im Parteiensystem und seinen Konflikten zeigten. Das Land wurde durch Auseinandersetzungen zwischen Nationaldemokraten und den Parteien der nationalen Minderheiten erschüttert. 1922 wurde der mit den Stimmen der Minderheit gewählte polnische Präsident Narutowicz ermordet. Piłsudski, der sich nach 1921 aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hatte, organisierte im Mai 1926 einen Staatsstreich. Seine politische Parole war ‘Sanacja’, eine Heilung der Gesellschaft vom Parteiengezänk, welches Piłsudski als Gefahr für einen starken polnischen Staat ansah. Im Laufe der 1920er Jahre wurden dann die Rechte der Opposition zunehmend eingeschränkt und 1935 in einer neuen Verfassung eine weitere Zentralisierung der Macht beschlossen.

Im Baltikum verlief die Entwicklung summarisch betrachtet ähnlich wie in Polen. In Litauen erfolgte im Dezember 1926 ein Militärputsch, der zur Einschränkung der politischen Freiheiten führte. 1928 wurde das Parlament aufgelöst und eine neue Verfassung proklamiert, die eine Präsidialdiktatur errichtete. In den anderen beiden baltischen Staaten wurden ähnliche Diktaturen ab 1934 verwirklicht.

Die Tschechoslowakei blieb die Ausnahme. Allerdings gab es auch hier in den ersten Jahren gewaltsame politische Konflikte, v.a. mit der deutschen Minderheit, die in der Folge bis 1926 an keiner der Regierungen teilnahm. Mit den Nachbarn gab es Auseinandersetzungen über den Grenzverlauf. Und ab 1935 kam es zu einer erneuten Zuspitzung der Konflikte mit der deutschen Minderheit, die sich mehr und mehr mit dem deutschen Nationalsozialismus identifizierte und eine Abtrennung der Grenzgebiete forderte. Dazu kam, dass Teile der slowakischen politischen Elite mit der Dominanz der Tschechen im neuen Staat unzufrieden waren. Die ursprünglich versprochene Föderalisierung fand nicht statt. Es gibt Historiker, die gegen den Anschein von einer gewissen Instabilität auch der demokratischen Ordnung in der Ersten Tschechoslowakei hinweisen, die sich in dem schnellen Umbau der politischen Ordnung nach dem Münchener Abkommen, in der sogenannten ‘Zweiten Republik’ 1938/39 gezeigt hätte.Footnote3 Ungeachtet dieser Einschränkung soll hier die Tschechoslowakei als wichtiger abweichender Fall der politischen Entwicklung genutzt werden, wenn in einem Ländervergleich nach den Ursachen von Stabilität bzw. Instabilität der demokratischen Ordnungen gesucht wird.

Wenn man die problematischen Trends innerhalb der jungen Demokratien zusammenfasst, dann rücken folgende drei Erscheinungen in den Blick, die die Entwicklung in vielen osteuropäischen Staaten der Zwischenkriegszeit charakterisieren:Footnote4

Die politische Entwicklung ist, erstens, durch eine hohe Instabilität der Institutionen gekennzeichnet, in Polen z.B. gab es in den Jahren nach der staatlichen Neugründung bis zum Putsch im Mai 1926 14 Regierungen, jede war durchschnittlich nur ein halbes Jahr im Amt. In Litauen kam es bis zum Putsch zu 11 Regierungen.

Ein zweites Moment waren scharfe ethnische Konflikte, die die Integrationsfähigkeit der schwachen Exekutiven überforderte. Die neuen Nationalstaaten waren fast durchweg durch einen ethnischen Flickenteppich gekennzeichnet (siehe Tabelle 1). Wirklich brisant wurde diese ethnische Vielfalt aber erst durch den seit dem 19. Jahrhundert herrschenden Kulturnationalismus: Was eine Nation darstellte wurde über Sprache, historische Mythen und allgemeinere kulturelle Merkmale wie Religionszugehörigkeit bestimmt. Die Titularethnie empfand die Einflussnahme der Minderheiten auf die Politik häufiger als Bedrohung der eigenen Existenz ().

Table 2. Tabelle: Ethnische Differenzierung der Bevölkerung Ostmitteleuropas 1930 oder 1931 (in Prozent der Gesamtbevölkerung).

Drittens: Neben der ethnischen Zerklüftung lässt sich der exzessive Einsatz von Gewalt für politische Zwecke beobachten. In diesem Raum fallen in diese Kategorie die Ermordung des polnischen Präsidenten 1920 oder die genannten Militärputsche. In allen Ländern kam es zum Abbau politischer Rechte und Freiheiten bereits vor dem vollzogenen Übergang zu gefährdeten Demokratien oder sogar Diktaturen. Die Beschneidung der bürgerlichen Rechte und die Stärkung der Macht der staatlichen Exekutivorgane wurden in der Regel in Verfassungen festgeschrieben, die die vorherigen liberalen Rechtsordnungen ablösten, so etwa in Litauen 1928 und in Polen 1935.

Thesen zu den Ursachen des politischen Wandels von schwachen Demokratien zu autoritären Regimen

Ausgehend von der Darstellung von Phänomenen der politischen Instabilität soll nun genauer nach allgemeinen Trends gefragt werden: Wie kam es zum raschen Niedergang der jungen Demokratien? Was waren die wesentlichen Ursachen dafür?

Dieser Analyse liegt einerseits ein tiefergehender Vergleich zwischen den autoritären Regimen, hier vor allem Horthy-Ungarn, und der einzig verbleibenden Demokratie, der Tschechoslowakei, zugrunde.Footnote5 Anderseits gehe ich von einem Verständnis von Demokratie aus, in welchem die politische Institutionenordnung in den sozialen Kontext der Modernisierung einbettet ist. Diese theoretische Annahme lenkt den Blick auf soziale Spannungen, die im politischen System ausgetragen werden.

Erstens, die Unterschiede in der politischen Entwicklung wurzeln darin, ob der Staat ein Gewinner oder Verlierer der Friedensverhandlungen nach dem Ersten Weltkrieg war. Davon ausgehend ergab sich ein diametral entgegengesetztes Verhältnis zur demokratischen Staatsform der Siegermächte. Die Tschechoslowakei hatte sich eindeutig auf die Seite der Entente gestellt und sah deren parlamentarische Ordnung als Gewähr der weiteren erfolgreichen Entwicklung des Landes an. Der ungarischen Oberklasse hingegen mag der Parlamentarismus nur als die verhasste politische Form der Sieger im Kriege erschienen sein. Allerdings lässt sich diese Erklärung nicht auf alle Staaten ausdehnen, Polen etwa gehörte ja ebenso zu den Siegern der Nachkriegsordnung und verabschiedete sich ebenso wie Ungarn, nur etwas später, von der liberalen Demokratie.

Zweitens, von Bedeutung für die Stabilität der demokratischen Ordnung war, ob eine Gesellschaft bei deren Institutionalisierung bereits in gewissem Maße modernisiert war, etwa eine moderne Industrie und ein entwickeltes Schulwesen ausgebildet hatte. Die gesellschaftliche Modernisierung der Tschechoslowakei wirkte sich im Parteiensystem so aus, dass in ihm die damals moderne Form einer politischen Partei, die Klassenpartei, die traditionellere Klientelpartei abgelöst hatte. In Ungarn hingegen lebte die traditionellere Form von politischen Parteien, ein Klientelnetzwerk von Gruppen der Oberschichten, fort und bildete unter verschiedenen Namen eine dominierende Staatspartei, die in den jeweiligen eingeschränkt freien Wahlen siegte.

Drittens, es existiert ein wesentlicher Zusammenhang zwischen dem Ausmaß der sozialen Spannungen und kulturellen Konflikte in einer Gesellschaft und ihrer Neigung, autoritäre Regime zu akzeptieren. Die Zwischenkriegszeit ist auch ein Lehrbeispiel dafür, dass dann, wenn sich die Rückstände in der Modernisierung gegenüber den Ländern des europäischen Zentrums mit nationalen Spannungen verkoppeln, eine stabile demokratische Entwicklung nur schwer möglich ist.

Viertens, war die demokratische Widerstandsfähigkeit einer Ordnung in einem gewissen Ausmaß von den Überzeugungen des politischen Führers abhängig. Was auch in normalen Zeiten politischer Entwicklung gilt, ist umso mehr relevant, wenn sich die betreffenden politischen Regime gerade erst gebildet haben. Dieser Einfluss lässt sich besonders gut an einem Vergleich zwischen dem Tschechoslowaken Tomáš G. Masaryk und dem polnischen führenden Politiker, Józef Piłsudski, demonstrieren. Masaryk war Philosoph. Seine Konzeption von der Demokratie gründete sich auf ein humanistisches Bild vom Menschen und der Gesellschaft sowie auf einen Fortschrittsbegriff, der in der Geschichte eine Bewegung vom blinden Gehorsam zur rationalen Prüfung von Argumenten als Grundlage von Entscheidungen vor sich gehen sah. Demokratie war für Masaryk auf Diskussion begründet. Sie sei ein ‘Gespräch zwischen Gleichen, die Erwägung freier Bürger vor der ganzen Öffentlichkeit’.Footnote6 Józef Piłsudski, Sohn einer polnischen Adelsfamilie aus Vilnius, begann als Sozialist, entschloss sich aber nach der gescheiterten russischen Revolution von 1905 den Kampf für die nationale Wiedergeburt Polens ins Zentrum seines politischen Lebens zu stellen. Zu seinem wichtigsten Ziel wurde die Wiedergeburt des polnischen Staates, seine möglichst große Stärke.

Interessant sind besonders die Reden, die er nach dem Putsch vom Mai 1926 hielt. In der Periode der Demokratie habe Parteihader geherrscht. Der Staat sei schwach gewesen und die ihn repräsentierenden Personen seien schutzlos dem Kampf der Parteien ausgesetzt gewesen. ‘Über allem herrschte in Polen das Interesse des Einzelnen und der Parteien, es bestand Straflosigkeit für alle Missbräuche und Verbrechen’.Footnote7 Dem wollte Pilsudski ein Ende bereiten, in dem er die Macht der Parteien beschnitt und die Stellung der Exekutive stärkte. Das Ziel sollte ein machtvolles Polen sein, garantiert durch einen starken Staat, der auch soziale Verantwortung tragen sollte.

Und schließlich, ein fünftes Moment des politischen Wandels, der internationale politische Zeitgeist. Er ist immer durch die Hegemonie von bestimmten politischen Zielen bestimmt, die in der Regel durch bestimmte Staaten verkörpert werden. Zwischen 1918 und Beginn der 1930er Jahre vollzog sich ein radikaler Wechsel der vorherrschenden politischen Wertvorstellungen. Während Anfang der 1920er Jahre das republikanische Frankreich auf die Gesellschaften Ostmitteleuropas hegemonial wirkte, wuchs im nächsten Jahrzehnt der Einfluss autoritärer Staaten wie des faschistischen Italiens oder des nationalsozialistischen Deutschlands. Auch dadurch erschien die Demokratie als politische Ordnung immer weniger als überzeugende Antwort auf die brennenden Probleme der Zeit. In der Folge dieser bezeichneten fünf Prozesse gerieten die gefährdeten liberalen Demokratien Ostmitteleuropas in eine Legitimationskrise.

Für uns heute ist die wichtige Frage, wie weit sich aus diesen historischen Entwicklungen im Ostmitteleuropa der Zwischenkriegszeit Lehren für die Gegenwart gewinnen lassen. Einfache Antworten sind allerdings nicht möglich, denn die damaligen und die aktuellen sozialen Bedingungen für politische Institutionensysteme unterscheiden sich deutlich voneinander. Begründet ist das vor allem in zwei Prozessen: Einmal den ethnischen Homogenisierungsprozessen im Ergebnis des Zweiten Weltkriegs und zum anderen in der in jener Region stattgefundenen, wenn auch unvollkommenen staatssozialistischen Modernisierung nach 1945.Footnote8 Auch der Zustand europäischen Staatensystems ist heute deutlich anders als damals. Die Demokratie als politische Ordnung ist weltweit deutlicher verankert. Beunruhigende Parallelen lassen sich allerdings dann doch entdecken, besonders angesichts eines Aufstiegs starker nationalpopulistischer Parteien in Ungarn und Polen und den in Teilen der politischen Eliten und der Bevölkerung in der letzten Dekade an Einfluss gewinnenden illiberalen Ideen.

Correction Statement

This article has been corrected with minor changes. These changes do not impact the academic content of the article.

Additional information

Notes on contributors

Dieter Segert

Dieter Segert was Professor of Political Science (East European Studies) at the Institute of Political Science, University of Vienna, Austria, from 2005 to 2017. He has published on the transformation of East Central and Eastern Europe, part politics in Eastern Europe, and the history of state socialism. His most recent publication is Transformation und politische Linke – eine ostdeutsche Perspektive (Hamburg, 2019).

Notes

1 Ich stütze mich bezüglich der Bestimmung von ‘Diktatur’ auf Franz Neumann. (F. Neumann, ‘Notizen zur Frage der Diktatur’, in F. Neumann (ed.), Demokratischer und autoritärer Staat [Frankfurt/Main, 1986] p. 224) Der Begriff einer gefährdeten Demokratie stützt sich auf den Begriff ‘Defekte Demokratie’, der von Wolfgang Merkel und seiner Gruppe entwickelt wurde (siehe u.a. W. Merkel et al., Defekte Demokratien: Theorie (Opladen, 2003) vol. I, Leske + Budrich; W. Merkel et al., Defekte Demokratien: Regionalanalysen (Wiesbaden, 2006) vol. II, VS Verlag für Sozialwissenschaften). Stärker als Merkel möchte ich mit diesem Begriff die Instabilität der demokratischen Herrschaft ausdrücken, ihre Labilität, aus der die Gefahr entsteht, dass sie in eine autoritäre Form von Herrschaft umkippt.

2 Diesen Gedanken entwickle ich in einem Vortrag, der 1994 unter folgendem Titel veröffentlicht wurde: D. Segert, Diktatur und Demokratie im 20. Jahrhundert (Berlin, 1994), p. 12.

3 Siehe dazu u.a. P. Heumos, ‘Pluralistische Machtorganisation als Garant der Demokratie? Zur Struktur und zum autoritären Potential der Ersten Tschechoslowakischen Republik’, in E. Oberländer et al. (eds), Autoritäre Regime in Ostmitteleuropa 1917–1944 (Mainz, 1995), pp. 137 ff.

4 Siehe Segert, Die Grenzen Osteuropas. 1918, 1945, 1989 - drei Versuche, im Westen anzukommen [Frankfurt/Main, New York, 2002] p. 40 ff.

5 Ibid., p. 15 ff.

6 Siehe K. Capek, Gespräche mit TGM (Tomas G. Masaryk) (München, 1969), p. 317.

7 J. Pilsudski, ‘Rede vor dem Sejm am 29.5.1926’, in J. Pilsudski, Gesetz und Ehre. Eine Auswahl aus seinen Reden (Jena, 1935), p. 199.

8 Vgl. genauer meine Analyse in Segert, Grenzen.