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Kampf um das Wahlrecht in Ungarn 1919–38. Mehrheits- oder Verhältniswahl? [Struggle for the right to vote in Hungary 1919–38: Majority or proportional representation?]

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Pages 218-228 | Published online: 25 Jun 2020
 

ABSTRACT

The interwar political system in Hungary is best understood via the rules related to suffrage. One-party rule is a political system where the methods of democratic ruling are totally excluded. In such a system suffrage doesn't bear any particular importance, the single party confidently wins the elections regardless to suffrage model applied. The manipulation of suffrage therefore presupposes the existence of opposition parties, where manipulation as a means is aiming to prevent the change of government. Interwar Hungary fell into this latter category with three major methods of manipulation: the restriction of the circle of enfranchised constituents, open suffrage, as well as the arbitrary mix of proportional and majoritarian systems. The present study sets out to cover this latter topic. The political forces coming to power in 1920 were stronger in the country, weaker in urban areas. Suffrage was regulated in such a way that a majoritarian system was applicable in the country, whereas a proportional one in the urban areas. This resulted in a constantly advantageous distribution of seats for the forces in power, compared to the situation in which a uniform system of suffrage rules would have been applicable.

Correction Statement

This article has been corrected with minor changes. These changes do not impact the academic content of the article.

Notes

1 § 1 Abs (1) – (2) des Volksgesetzes Nr. I aus dem Jahre 1918.

2 Volksgesetz Nr. XXV. aus dem Jahre 1919.

3 István Friedrich (1883–1951) füllte das Amt des Ministerpräsidenten zwischen 6. August und 24. November 1919 aus.

4 Verordnung der ungarischen Regierung Nr. 5985/1919.

5 Aufgrund der Anordnung von Friedrich registrierten die Verzeichnisse, die für die Wahl zur Nationalversammlung 1920 gemacht waren, 3.133.094 Wahlberechtigte, was 39,7 Prozent der Gesamtbevölkerung darstellte. Wenn man die Alterszusammensetzung der Bevölkerung untersucht, zeigt es sich, dass das Verhältnis der Volljährigen zu den Minderjährigen nach den Daten der Volkszählung aus dem Jahre 1920 50:50 war. Magyar Statisztikai Évkönyv [Statistisches Jahrbuch Ungarns] (1925) pp. 10, 214.

6 „Die Wahl erfolgt nach Gemeinden (Wahlkreisen) auf geheime Weise.” – § 6 Abs (2) der Verordnung der ungarischen Regierung Nr. 5985/1919.

7 § 2 der Verordnung der ungarischen Regierung Nr. 5984/1919.

8 In Ungarn konnten alle Komitate in den ständischen Reichstag zwei Delegierten schicken, unabhängig davon, wie viele Adelige auf dem Territorium des Komitates lebte. Am Reichstag von Pozsony/Pressburg 1847/48 begeisterten sich die kleineren Komitate für die Methode natürlich nicht, nach der die Mandatszahl proportional zur Bevölkerung verteilt wurde. Der Gesetzartikel V 1848 schloss den Kompromiss, zwei Mandate für jene Komitate zu geben, und davon aus – maximal bis zehn erhöht – versuchte die Anzahl der Wahlkreise auf die Anzahl der Wähler abzugleichen. [§ 5 Punkt B. des Gesetzesartikels Nr. V. aus dem Jahre 1848.]

9 Budapest hatte im Jahr 1848 151,000, und 1900 schon 732,000 Einwohner. (Budapest ist – mit der Vereinigung der drei Städte – im Jahr 1872 entstanden. Die Angabe 1848 ist die Summe der Bevölkerung dieser drei Städte.). Im Jahr 1848 wurden in diesem Ort 7 Wahlkreise gegründet, was bis zur Jahrhundertwende sehr wenig war. Im Jahr 1914 wurde diese Zahl um 22 erhöht.

10 § 7 des Gesetzesartikels Nr. V. aus dem Jahre 1848.

11 Verordnung des ungarisch-königlich Innenministers Nr. 55000/1914.

12 Am 16. November 1919 zog unter der Führung des späteren Reichsverwesers Miklós Horthy die sogenannte Nationalarmee in die Hauptstadt ein. Ihr verfassungsrechtlicher Status war ungeklärt, sie agierte praktisch unabhängig von der Regierung. Die Sozialdemokratische Partei hat des Öfteren beklagt, dass die Nationalarmee ihre Telefonlinien zum Erlöschen gebracht, ihr Wahlmaterial beschlagnahmt bzw. die Parteiaktivisten belästigt habe. Angesichts dieser Repressalien boykottierten die Sozialdemokraten schließlich die Wahlen. Bei den nachfolgenden Wahlen des Jahres 1922 erlangten sie dann 25 von 245 Parlamentssitzen. Magyar Statisztikai Évkönyv [Statistisches Jahrbuch Ungarns] 1923-1924-1925 (Budapest, 1927) p. 274.

13 § 17 der Regierungsverordnung Nr. 5988/1919.

14 Der Aufruf zum Boykott war nicht unwirksam; wo die Sozialdemokraten stark waren, war die Zahl der ungültigen Stimmen ziemlich hoch: Ózd 24 Prozent, Sajószentpéter 36 Prozent, Dorog 31 Prozent, Szolnok 26 Prozent, Újpest 27 Prozent, Rákospalota 24 Prozent. [Siehe L. Hubai, Magyarország XX. századi választási térképe [Wahlkarte Ungarns in der 20. Jahrhundert], 2 Bde. (Budapest, 2001) vol. II, p. 21] Man kann aus der Menge der ungültigen Stimmen folgen, dass die Aufteilung der Wahlkreise für die Sozialdemokraten meistens ungünstig war, weil die Zahl der ungültigen Stimmen in den bevölkerungsstärkeren Wahlkreis meistens auch größer war.

In Budapest gab es im kleinsten Wahlkreis (Nr. 7.) 11,053, im größten (Nr. 12) 36,424 registrierte Wahlbürger. Der Anteil der ungültigen Stimmen überstieg im ersten Fall kaum die 9 Prozent, im zweiten Fall war dieses Verhältnis aber beinahe 38 Prozent, nur ein paar Stimmzettel fehlten dazu. [Siehe Hubai, Magyarország, vol. II, p. 21] Wenn wir die Umgebung von Budapest untersuchen, können wir feststellen, dass Kispest der größte Wahlkreis im Komitat Pest-Pilis-Solt-Kiskun war mit 40,321 registrierten Wählern. Der kleinste Wahlkreis, zu dem es Daten über den Anteil der ungültigen Stimmen gibt, war Nagykőrös mit 11,683 Wählern. Der Anteil der ungültigen Stimmen war 27% und 2% [Siehe Hubai, Magyarország, vol. II, p. 18].

15 Wir finden mehrere solcher Wahlkreise, wo nur die Zahl der gültigen Stimmen bekannt ist. Von den 1,402,406 bekannten gültigen Stimmen wurde 1,160,097 Stimmen in solchen Wahlkreisen abgegeben, von denen die Zahl der ungültigen Stimmen auch bekannt ist. [L. Hubai, Magyarország XX. századi választási térképe [Wahlkarte Ungarns in der 20. Jahrhundert] 2 vols (Budapest, 2001) vol. I, p. 23] Die 155,461 bekannten ungültigen Stimmen habe ich in diesem Verhältnis auch erhöht, und habe sie mit 188,000 gezählt.

16 OKGFP = Országos Kisgazda és Földmíves Párt [Landes- Kleinwirte- und Ackermannspartei].

17 KNEP = Keresztény Nemzeti Egyesülés Pártja [Partei der Christlich-Nationalen Einigung].

18 Hubai, Magyarország, vol. II, pp. 17–22.

19 § 3 der Verordnung der ungarischen Regierung Nr. 5984/1919.

20 István Bethlen (1874–1946) war ein konservativer Politiker und nach 1901 Mitglied des ungarischen Reichstages. Im Frühling 1919 war er eine der wichtigsten Stimmen der konservativen Kräfte gegen die Räterepublik. Zwischen 1921 und 1931 war Bethlen Ministerpräsident. Er wurde Ende 1944 von den sowjetischen Militärbehörden festgenommen und in die Sowjetunion verschleppt. Bethlen starb im Herbst 1946 in einem Gefängniskrankenhaus in Moskau.

21 […] Das Ministerium wird zugleich angewiesen, insofern sich die Bestimmungen auf Angelegenheiten beziehen, die zum Kompetenzbereich des Parlaments gehören, baldmöglichst der Nationalversammlung entsprechende Gesetzentwürfe vorzulegen [§ 10 Satz 2. des Gesetzesartikels Nr. I aus dem Jahre 1920].

22 Das Mandat der Nationalversammlung lief am 16. Februar 1922 ab. Der Gesetzentwurf wurde durch den Ministerrat auf der Sitzung vom 24. Januar 1922 behandelt und drei Tage später bei der Nationalversammlung eingereicht. Für die Behandlung und die Annahme des Gesetzentwurfes standen also knapp drei Wochen zur Verfügung.

23 Gesetzentwurf über die Wahl der Reichstagsabgeordneten. [Verhandlungen der (ungarischen) Nationalversammlung; Anlagen zu den Stenographischen Berichten 1920, vol. XIII. pp. 1–13].

24 Die Munizipien waren alle Komitate und diejenigen größeren Städte, die die Verwaltungsaufgabe der Komitate selbst versorgen konnten. Vor 1918 gab es 25 dieser Städte, nach dem Friedensvertrag von Trianon blieben Ungarn neun. Diese Städte [die Munizipien] hatten die gleiche Rechtsposition wie die Komitate.

25 Verordnung des ungarisch-königlich Ministeriums Nr. 2200/1922.

26 Die bedeutendste Veränderung war die Verschärfung des Bildungszensus. Die Wahlordnung von 1919 enthielt bei den Männern noch keine Einschränkung hinsichtlich des Bildungsgrades, ab dem Jahre 1922 wurde der Abschluss der vier Klassen der Volksschule verlangt. Bei den Frauen wurde die Bedingung einer Schreib- und Lesekompetenz auf den Abschluss der sechs Klassen der Volksschule erhöht.

27 § 11 Abs (1) der Verordnung des ungarisch-königlich Ministeriums Nr. 2200/1922.

28 Hubai, Magyarország, vol. I, p. 38.

29 Als die Opposition im Jahre 1921 erkannte, dass die Mehrheit der Nationalversammlung die Einführung einer Verhältniswahl nicht unterstützen würde, forcierte sie zunehmend die Aufnahme einer Kompensationsliste in das Wahlgesetz. Ziel war, die Ersatzstimmen proportional auf 25–50 Mandate zu verteilen. [Ruszoly József: ’Alkotmányjogi reformtörekvések az első nemzetgyűlés idején.’ [Verfassungsrechtliche Bestrebungen in der Zeit der ersten Nationalversammlung], in J. Ruszoly (ed.), Alkotmánytörténeti tanulmányok I. (Szeged, 1991) pp. 294–5.] In dem Verfahren bekommt in einem Wahlkreis der Sieger das Mandat, die Stimmen der anderen Kandidaten kommen als Ersatzstimmen auf die Kompensationsliste. Nach der zeitgenössischen Terminologie Minderheitsvertretung genannten Institution wäre die Deformität der Mandatsverteilung stark reduziert worden.

30 Nach der Vorlage des Gesetzentwurfes setzte die Nationalversammlung eine aus zwanzig Personen bestehende Wahlrechtskommission ein, die über den Antrag der Regierung einen Bericht verfasste. [Verhandlungen der (ungarischen) Nationalversammlung; Stenographische Berichte 1920, vol. XVI, p. 91] Da der Gesetzentwurf nicht bis zur Phase der Abstimmung kam, ist es schwer, ein genaues Bild seiner Unterstützung zu bekommen; der Bericht der Kommission gibt jedoch Anhaltspunkte. Die Kommission unterstützte die Bemühungen der Regierung in zwei von drei Fragen. Sie nahm sowohl die Bindung des Wahlrechtes (sowohl für Männer als Frauen) an eine Volksschulbildung an, als auch die Umgestaltung des Wahlsystems. Letzteres bedeutete die Einführung der Proportionalwahl (Verhältniswahl) in Budapest und Umgebung und den Erhalt der Mehrheitswahl in den anderen Regionen des Landes. In der Frage der offenen Abstimmung lehnte die Wahlrechtskommission hingegen den Vorschlag der Regierung ab.

31 § 1 des Gesetzesartikels Nr. XIX aus dem Jahre 1938.

32 In Einmannwahlkreisen 2000 Pengő (1 RM = 1,36 Pengő), in der Landesliste hing die Summe der Kaution vom Verhältnis der zu gewinnenden Mandate ab, zwischen 3000–5000 Pengő. [§ 78 Abs (2) des Gesetzesartikels Nr. XIX aus dem Jahre 1938.] Die Kaution wurde zurückbezahlt, falls der Kandidat in Einmannwahlkreisen 25 Prozent der Stimmen bekam, und in der Landesliste, falls der Abgeordnete mindestens die Hälfte der Stimmen bekam, die für den Gewinn eines Mandats nötig waren [§ 125 des Gesetzesartikels Nr. XIX aus dem Jahre 1938.].

33 In den Wahlen von 1935 wurden in den 199 Einzelwahlkreisen insgesamt 378 Kandidaten gestellt [Hubai, Magyarország, vol. I, p. 57], das bedeutet einen Durchschnitt von 1,9, im Jahre 1939 gab es in 135 Einzelwahlkreisen 335 Kandidaten [Hubai, Magyarország, vol. I, p. 67.], das bedeutet einen Durchschnitt von 2,48. Ein Durchschnitt unter zwei bedeutete auch, dass in mehreren Wahlkreisen nur eine Partei (offensichtlich die Regierungspartei) einen Kandidaten nominierte.

34 Früher wurde es bereits erwähnt, dass bei der Wahl von 1920 mehr als 80 Prozent der volljährigen Bevölkerung über Wahlrecht verfügte. Die Wahlordnung von 1922 reduzierte diese Zahl auf 48–49 Prozent, doch diese Zahl erhöhte sich bei der Wahl von 1935 unter den gleichen Wahlrechtsordnungen um 59,4 Prozent. Das zeigt, dass unter denjenigen, die die Altersgrenze für das Wahlrecht neulich überschritten, dem Bildungszensus in höheren Maßen entsprachen, und bei der Wahl von 1939 hätte diese Zahl sogar auf 62–63 Prozent erhöhen können. Dahingegen war diese Zahl nur 51,5 Prozent, weil von 5,351.442 volljährigen Bewohner wurden nur 2,761,218 in die Wahlliste eingetragen.

35 Das Oberhaus erhielt bei der Verabschiedung der Gesetze, anstatt des vorherigen aufschiebenden, ein absolutes Vetorecht [§ 2 des Gesetzesartikels Nr. XXVII. aus dem Jahre 1937.] Der Reichsverweser konnte – nach der Vorlage von Reichstag – nicht mehr innerhalb von 60 Tagen, sondern von sechs Monaten, zur Verkündung eines Gesetzes übergehen, oder es zur Überlegung zurückschicken. Er konnte das Recht des Zurückschickens nicht einmal, sondern zweimal anwenden. Also wurde der Zeitraum von 60 Tagen auf zweimal sechs Monate verlängert, den der Reichsverweser nutzen konnte, um die Verkündigung eines Gesetzes zurückzuhalten. [§ 1 des Gesetzesartikels Nr. XIX aus dem Jahre 1937].

36 Bis auf die im Jahr 1920 gewählte Nationalversammlung wurde das Parlament (die Nationalversammlung) für fünf Jahre beauftragt, der Reichsverweser löste es jedoch mehrmals auf. So gab es parlamentarische Wahlen in den folgenden Jahren: 1920, 1922, 1926, 1931, 1935, 1939.

Additional information

Notes on contributors

István Szabó

István Szabó is Professor of History at the Deparment of Legal History, Pázmány Péter Catholic University, Budapest, Hungary. His areas of research expertise focus on the constitutional history of Austria, Hungary and Germany in the post-1848 period. He has a particular interest on the history of the Hungarian state in the interwar period (post-First World War). He has published widely in these areas and he is the author of An der Grenze von Demokratie und authoritärem Regime: Charakteristische Merkmale der ungarischen Staatsorganisation in der Zwischenkriegszeit (Baden-Baden, 2014).

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