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WALTER MEHRINGS DIE VERLORENE BIBLIOTHEK — EIN ‘FRIEDHOF DER IDEEN’?

Pages 296-308 | Published online: 26 Dec 2013
 

Abstract

Walter Mehring schrieb diese ‘Autobibliographie’ 1951 im amerikanischen Exil. Nicht nur die väterliche Bibliothek wurde von den Nazis vernichtet; als Folge einer allgemeinen Sinnkrise verlor sie für den Sohn auch ihre Bedeutung. Mehrings Abrechnung mit der europäischen ‘Fortschrittskultur’ erfasste die gesamte Tradition der Aufklärung, in ihr sah er die Einheit von Ethik und Ästhetik vernichtet. Als unbehauster Flaneur wurden ihm die europäischen Großstädte zur Heimat, geistig stand er den Dadaisten nahe. Wie viele Vertreter der Postmoderne findet er zu de Sade, dem zynischen Kritiker der klassischen Vernunft und entwickelt Ansätze zu einer Dialektik der Aufklärung, um deren Logozentrismus mit esoterisch-okkultem Gedankengut zu hinterfragen. Auf der Suche nach der Wirklichkeit des ganz anderen orientiert sich seine ‘Traumbibliothek’ an Theosophie, Kabbala und dem osteuropäischen Chassidismus. Mehrings Suche endet in der Absurdität einer Neuenglandfarm, wo er die ‘Tradition’ vor den Zwängen des Konformismus zu bewahren gedenkt.

Notes

1 ‘Erklärung der Hochschullehrer, 23. Oktober 1914’, in Erich Marcks, Wo stehen wir? (Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1914), S. 18.

2 Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, Bd. 1 (Frankfurt: Suhrkamp, 1983), S. 8.

3 Walter Mehring, Die verlorene Bibliothek. Autobiographie einer Kultur (Hamburg: Rowohlt, 1952), S. 113. Alle weiteren Anmerkungen zu diesem Werk werden im Text in Klammern als Seitenzahl angegeben.

4 Hermann Kesten, Meine Freunde die Poeten (München: Kindler, 1959), S. 323.

5 Wolfgang Emmerich, ‘Mehring, Walter’, in Neue deutsche Biographie, Bayerische Akademie der Wissenschaften (Hg.) Bd. 16 (Berlin: Duncker & Humblot, c. 1953), S. 626.

6 Cf. Hans-J. Weitz (Hg.), Drei jüdische Dramen. Hermann Ungar: Der rote General, Walter Mehring: Der Kaufmann von Berlin, Paul Kornfeld: Jud Süß (Göttingen: Wallstein, 1995), S. 297–357.

7 Mehring, Großes Ketzerbrevier (München: dtv, 1975), S. 219f. Cf. auch die musikalische Version von Ernst Busch, 1933 auf Das Archiv der Arbeiterbewegung, <http//www.kampflieder.de>.

8 Elke Suhr, Carl von Ossietzky, eine Biographie (Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1988), S. 200.

9 Das Deutsche Reich hatte ihm 1935 die Staatsbürgerschaft entzogen. Cf. Murray G. Hall, ‘Biographie als Legende’, in Heinz Ludwig Arnold (Hg.), Walter Mehring Sonderband, Text und Kritik. Zeitschrift für Literatur, Nr. 78 (München: Text und Kritik, 1983), S. 22, 26.

10 Reinhard Lettau (Hg.), Die Gruppe 47, Bericht, Kritik, Polemik, ein Handbuch (Neuwied, Berlin: Luchterhand, 1967), S. 89.

11 ‘Interview mit Joachim Kaiser vom 21. 6. 1988’, in Ausstellungskatalog der Akademie der Künste, 28. Oktober bis 7. Dezember 1988 (Hg.), Dichter und Richter: Die Gruppe 47 und die deutsche Nachkriegsliteratur (Berlin: Die Akademie, 1988), S. 8.

12 Lettau (Hg.), Die Gruppe 47, S. 421.

13 Robert Neumann, ‘Spezis Gruppe 47 in Berlin’, Konkret Nr. 5 (1966), 39.

14 Kaiser, zitiert aus Klaus Briegleb, Mißachtung und Tabu: Eine Streitschrift zur Frage:‘Wie antisemitisch war die Gruppe 47’ (Berlin: Philo, 2003), S. 262.

15 Kaiser, Dichter und Richter, S. 8.

16 Hugo von Hofmannsthal, Sämtliche Werke, Erfundene Gespräche und Briefe, Ellen Ritter (Hg.), Bd. 31 (Frankfurt: Fischer, 1991), S. 48.

17 Altgriechisch καλòς κàγαθòς, ein schon von Herodot gebrauchter Begriff, der das Zusammentreffen von sittlich gut und ästhetisch schön bezeichnet und zum Inbegriff abendländischen Denkens wurde.

18 Mehring muss Herders Vom Geist der Ebräischen Poesie gelesen haben, wir werden später darauf zurückkommen.

19 Gemeint ist ‘der böhmische Gefreite’ Adolf Hitler.

20 In der Doppelrolle von Faust und Mephisto (141).

21 Cf. Mehring, ‘Berlin Dada’, Erinnerungen (Zürich: Arche, 1959), S. 69, 83f.

22 Arthur Rimbaud, Lettre du voyant: Un coeur sous une soutane (Paris: Presses du livre français, 1950), S. 24.

23 Rimbaud, Une saison en enfer, ‘Adieu’, in Rimbaud l’Œuvre, Claude Jeancolas (Hg.) (Paris: textuel, 2000), S. 323.

24 Hofmannsthal, Sämtliche Werke, Bd. 31, S. 49.

25 Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, 9. Aufl., Karl Vorländer (Hg.) (Hamburg: Felix Meiner, 1929), S. 205. Cf. auch Hofmannsthal, Sämtliche Werke, Bd. 31, S. 53.

26 Rimbaud, Le Bateau ivre: ‘...La tempête a béni mes éveils maritimes. | Plus léger qu'un bouchon j'ai dansé sur les flots | Qu'on appelle rouleurs éternels de victimes, | Dix nuits, sans regretter l'oeil niais des falots!’, in Rimbaud l’ Œuvre, S. 181.

27 Man kann hier auch an Hofmannsthals Entwicklung zum Salzburger großen Welttheater denken.

28 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung (Amsterdam: Querido Verlag, 1947), S. 8. Übereinstimmungen zwischen Mehring und der Dialektik sind so zahlreich, dass man Mehrings Kenntnis der Dialektik voraussetzen muss.

29 Mehring spricht sich gegen ‘die schmutzigen Zweideutigkeiten der Dialektik’ aus. Cf. Mehring, ‘Berlin Dada’, S. 27.

30 Horkheimer und Adorno, Dialektik, S. 9.

31 Horkheimer und Adorno, Dialektik, S. 13.

32 Michel Foucault, Les Mots et les choses: Une archéologie des sciences humaines (Paris: Gallimard, 1966), S. 13.

33 Horkheimer und Adorno, Dialektik, S. 10. Auch Sloterdijk beruft sich in Kritik der zynischen Vernunft (Bd. 1, S. 295) auf Sade.

34 Horkheimer und Adorno, Dialektik, S. 109.

35 Johann Gottfried Herder, Werke in zehn Bänden, Martin Bollacher et al. (Hg.), Bd. 5, ‘Vom Geist der Ebräischen Poesie’ (Frankfurt: Deutscher Klassiker Verlag, 1993), S. 676. Cf. auch Bd. 6, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Buch 12, Kap. 3, S. 483–92.

36 Cf. Mehring, Die höllische Komödie: Drei Dramen [Der Kaufmann von Berlin] (Düsseldorf: Classen, 1979), S. 145.

37 Cf. hierzu Donald J. Moore, Martin Buber, Prophet of Religious Secularism, 2nd edn (New York: Fordham University Press, 1996) und Buber, Ich und Du [1923]. 10. Aufl. (Heidelberg: L. Schneider, 1979).

38 Cf. Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser (Hg.), Bd. 1, 2 ‘Über den Begriff der Geschichte’, 6. These (Frankfurt: Suhrkamp, 1974), S. 695.

Additional information

Notes on contributors

Hans Hahn

Hans Hahn ist Emeritus Professor of German an der Oxford Brookes University. Wichtige Forschungsinteressen: Romantik, Vormärz, frühes zwanzigstes Jahrhundert, Geschichte des Intellektuellen. Kürzlich veröffentlicht sind ‘Das Glück der Selbstverwirklichung in Gottfried Kellers Frauengestalten’, Seminar, 47 (2011), und ‘Freiligraths Dichtung vor 1848. Auf der Suche nach der deutschen Nation’, Michael Vogt (Hg.), Karriere(n) eines Lyrikers: Ferdinand Freiligrath, Vormärz-Studien 25 (Bielefeld, 2012).

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